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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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eigentlich
vollkommen normal. Aber da treiben sich eben auch die Entwurzelten herum.«
    »Wolfskinder.«
    »Ja, so nennen die sich wohl. Kinder aus dem Osten. Andere von denen
schließen sich fahrenden Artisten an oder sind vor ihren prügelnden Eltern
geflohen oder vom schweren Torfstechen aus Niedersachsen ausgerückt oder von
der Zwangsarbeit im Uranbergbau in Wismar. Manche Vierzehnjährige sind
gerissener als ein Landser im Osten. Und brutaler. Da fliegen die Fäuste. Kein
Herumstreuner hat Lebensmittelkarten. Ohne Kohle, die sie verschanzen können,
würden sie verhungern. Da sitzt die Hand locker, wenn jemand in die Quere
kommt.«
    »Zum Beispiel jemand, der schmuggelt und Karten auf dem Schwarzmarkt
verschanzt und warm bei seiner Tante lebt und deshalb Kohlendiebstähle gar
nicht nötig hätte«, erwidert Stave leise und denkt nach. »Haben Sie Namen?«
    Kleensch lacht. »So dicht war ich an denen nun auch wieder nicht
dran. Durfte ich auch nicht, unsere Schriftleitung war dagegen.«
    »Haben die Herren Angst?«
    »Sie haben Angst um ihren Schaukasten. Einer unserer
Pressefotografen war neulich zufällig dabei, als zwei Polizisten einen
einschlägig bekannten Schwarzhändler verhafteten. Eine schnelle Reaktion, ein
schönes Bild, wir haben es in der nächsten Ausgabe gedruckt. Die hängt vor dem
Pressehaus in einem Schaukasten aus – und siehe da: Plötzlich erschienen
mehrere Herren in der Redaktion und legten uns eindrücklich nahe, unseren
Schaukasten umzudekorieren, wenn wir uns noch einige Zeit an ihm erfreuen
wollen. Glas ist knapp in diesen Zeiten, Herr Oberinspektor, und wir können
nicht ständig einen Aufpasser am Kasten postieren. Also haben die Herren der
Schriftleitung umdekoriert, und alles ist gut. Und ich habe den Wink bekommen,
in den nächsten Wochen etwas zurückhaltender zu sein. Keine Namen in der
Zeitung, keine Fotos aus dem Milieu. Die Großschieber schicken wenigstens ihre
Schlägertypen voraus, um einen zu warnen. Die Bengel vom Bahndamm kennen solche
Höflichkeit nicht.«
    »Und schon bleibt der ehemalige Stuka-Pilot brav hinter seinem
Schreibtisch hocken.«
    Kleensch starrt ihn verblüfft an, lacht auf. »Sie wollen mich
provozieren? Haben Sie keine Angst vor schlechter Presse? Was würde der
Bürgermeister dazu sagen?«
    »Ich suche den Mörder eines vierzehnjährigen Jungen.«
    Der Journalist wird wieder ernst, nickt, überlegt kurz. »Gut. Ich
habe eine Idee – eine Idee, von der meine Schriftleitung nichts erfahren muss.
Ich führe Sie zu den Kohlenklauern. Sehen Sie sich bei denen um, riskieren Sie
Ihren Hals.
    Planten un Blomen – dort, wo der Park an die Bahngleise stößt, neben
dem Bahnhof Dammtor. Am Samstag gegen sechs Uhr morgens? Samstags ist für
manche Kinder schon schulfrei, da lauern dort mehr Bengel als an den anderen
Tagen. Wir müssen früh da sein, denn sie schlagen nur so lange zu, bis es noch
nicht richtig hell ist und bis nicht zu viele Menschen unterwegs sind.«
    »Ich bin Frühaufsteher«, sagt Stave und greift nach seinem
Sommerhut.
    Beschwingt geht er die Treppe hinunter. Endlich eine Spur.
Ein Weg, auf dem es weitergeht. Kohlenklauer. Irgendeiner von den Bengeln wird
Adolf Winkelmann gekannt haben. Irgendwer wird reden.
    Er fühlt sich stark genug, nun alles in Ordnung zu bringen. Anna.
Stave vermisst sie. Warum nicht kurz bei ihr vorbeisehen? Er redet viel zu
selten mit ihr. Vielleicht ist der Samstag sein Glückstag? Er wird morgens am
Bahndamm auf die Jungs lauern. Vielleicht hat er nachmittags den Fall gelöst.
Er wird sie Samstagabend zum Essen einladen. Bei sich. Und danach wird sie
sicher über Nacht bleiben. Er hätte beinahe ein Lied gepfiffen, wenn er sich
dabei nicht zu lächerlich vorgekommen wäre.
    Die Röperstraße geht von der eleganten Palmaille Richtung Elbe ab,
eine bloß etwa 100 Meter lange, kopfsteingepflasterte Sackgasse, die man für
eine Toreinfahrt halten könnte, denn ein großes, halbrundes Portal in einem
langgestreckten Mietshaus an der Palmaille ist der einzige Zugang zur
Röperstraße. Die viergeschossigen Mietshäuser dahinter sind heruntergekommen,
aber unzerstört. Selbst die Türen sind noch aus der Vorkriegszeit: grün
gestrichen, mit weißen Eisengittern in der Mitte, deren Schmiedewerk drei Möwen
zeigt. Am Ende der Sackgasse ein Abhang, Wiesen, Büsche, Trümmer, dahinter die
Elbe. Fernweh. Dann erinnert sich Stave daran, dass Anna bei ihrer Flucht
beinahe mit der »Wilhelm Gustloff« untergegangen wäre. Ob

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