Schieber
an ihn erinnert. Seine Stimme klingt neugierig.
»Normalerweise klingle ich bei den Krimsches an, nicht umgekehrt«,
ruft er. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich brauche Informationen.«
»Wer hätte das gedacht? Worüber?«
»Kohlenklauer.«
»Ah, ein Leser unseres Blattes. Herzlichen Glückwunsch. Und was
genau wollen Sie über die Bengel wissen?«
»Alles.«
Stille am anderen Ende der Leitung. Dann holt Kleensch hörbar Luft.
»Nicht am Telefon, Herr Oberinspektor. Die Verbindung ist so schlecht – bis ich
Ihnen alles erzählt habe, bin ich heiser vom Schreien, und die Kollegen sind
taub, weil sie alles mithören müssen. Treffen wir uns bei mir in der Wohnung,
sagen wir um fünf Uhr nachmittags? Curienstraße 1, 6. Stock. Ist direkt neben
der Redaktion der ›Zeit‹.«
»Wie praktisch«, erwidert Stave.
An der Curienstraße 1 erhebt sich ein achtstöckiger Klotz
hinter dem von den Nazis errichteten »Pressehaus« am Speersort, wo die Zeit residiert. Staves Blick fällt auf ein riesiges Relief
aus braunem Stein rechts über dem Eingang: eine Kogge, groß wie ein
Lieferwagen, mit geblähtem Tuch. Auf dem Vordersegel glänzt ein großer, runder
Kreis, wie ein Medaillon. Er ist verdächtig leer, auch ist der Stein hier
heller als im Rest des Reliefs.
»Da prangte einst ein Hakenkreuz auf dem Segel«, erklärt Kleensch,
als Stave ihn an der Wohnungstür darauf anspricht. »Der Hausverwalter hat sich
1945 beeilt, das wegzumeißeln, bevor ein Tommie genauer hinschauen konnte.«
Der Journalist führt ihn hinein: ein schmales Zimmer, ein schmales
Fenster, eine harte Schlafcouch, ein Klavier, das in diesen Raum
hineingequetscht worden ist, darüber das Bild einer mittelalterlichen
Gottesmutter, eine Reproduktion in verblassten Farben.
»Stefan Lochners Kölner Madonna. Erinnert mich an die Heimat«,
erklärt Kleensch.
»Sie sind Rheinländer?«
»Und Berliner und Russlandfahrer und Hamburger. Eigentlich bin ich
ausgebildeter Kapellmeister, aber dann bin ich doch als Reporter bei der Vossischen
Zeitung in Berlin gelandet.«
»Waren Sie in der Partei?«
Er lacht und macht eine wegwerfende Handbewegung. »Die gute, alte
›Tante Voss‹ war doch das einzige Blatt in dem braunen Laden, in dem noch etwas
Freiheit herrschte. Nicht, dass es viel gewesen wäre. Wegen meiner Artikel legte
man mir nahe, mich bei Kriegsausbruch freiwillig zu melden. Was ich tat:
Stuka-Flieger, 250 Feindflüge im Osten, zweimal abgeschossen.«
»Aber nicht kriegsgefangen«, murmelt Stave mit einem Anflug von
Neid.
»Glückskind. Vom Osten nach Hamburg, hier zur Zeit . Und
plötzlich habe ich einen echten Kommissar in meiner Bude. Das Leben hält immer
Überraschungen bereit.«
Der Oberinspektor wirft Kleensch einen unauffälligen Blick zu: etwas
mehr als dreißig Jahre alt, jung, schlank, munter, frisch rasiert, mit einer
nicht genau zu bestimmenden Haarfarbe zwischen blond und braun. Eine
Allerweltsgestalt. Früher hätte er kaum je auf so einen wie den geachtet, so
gewöhnlich, so freundlich, so durch und durch harmlos, wie er aussieht. Aber
250 Feindflüge an der Ostfront. Was es wohl bedeutet, im Flugzeug abgeschossen
zu werden? Hat er eine Bruchlandung hingelegt? Ist er mit dem Fallschirm
herausgekommen? Feuer, Qualm, der Gestank von brennendem Öl. Verletzungen und
Schmerzen. Ob Kleensch nachts Albträume plagen?
»Reden wir über die Kohlenklauer«, sagt er. »Woher haben Sie Ihre
Informationen?«
Der Journalist zuckt mit den Achseln. Ȇber die Menge der
verschwundenen Kohle? Von der Verwaltung und von den Engländern. Aber Sie
werden sich weniger für die Kohlen interessieren als für diejenigen, die sie
verschwinden lassen. Ich habe mit einigen der Knaben geredet, was nicht ganz
einfach war.«
Der Oberinspektor klärt ihn über seinen Fall auf. »Fest steht, dass
er zumindest hin und wieder Kohlen gestohlen hat. Und offenbar kam es dabei zu
einem Streit mit einem anderen Jungen. Das ist wenig genug als Indiz, aber
immerhin ist es eines.«
»Die meisten sind ganz normale Kinder. Für die jüngeren ist das
sogar eine Art Spiel – ein ziemlich gefährliches allerdings. Kommt immer wieder
vor, dass einer beim Sprung auf einen Waggon abrutscht und unter die Räder
gerät. Dann liegt ein Arm auf den Gleisen, ein kleiner Arm.«
»Kennen Sie Adolf Winkelmann?« Stave zeigt das Bild des Toten.
»Nie gesehen.«
»Wissen Sie etwas von einem heftigen Streit?«
»Streit gibt es ständig. Wie gesagt: Die meisten sind
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