Schieber
Gebüsch wirft, erkennen muss, denkt der
Oberinspektor. Seine Handflächen sind feucht. Da hört er einen kurzen, hellen
Pfiff. Ein Junge, weit links an der Trasse, springt auf und winkt.
»Der Späher«, erklärt Kleensch. Auch seine Stimme klingt vor
Aufregung gepresst. »Ein Kohlezug kommt.«
Tatsächlich hört Stave Augenblicke später das Stampfen einer
Dampflokomotive – lange, bevor sie qualmend in Sicht kommt. Eine alte Maschine,
verbeult, mit leckem Kessel, die ein Dutzend offene Kohlenwagen hinter sich
herzieht, randvoll mit ihrer kostbaren Fracht, die im Morgendunst feucht
glänzt. In der langgestreckten Kurve vor dem Dammtorbahnhof muss der Zugführer
seine Lok abbremsen. Da die Trasse zudem tief liegt, ist dies der ideale Ort
für einen Überfall.
Die Jungen kleben geduckt am Hang wie kleine Raubkatzen, lassen die
Lokomotive passieren, den ersten Waggon, den zweiten – dann springen sie auf,
flinke, dürre Gestalten, laufen, laufen, laufen, den Sack in der kleinen Faust.
Kein Wort ist zu hören, alles übertönt vom Kreischen der Eisenräder auf den
Schienen, vom Rattern der Waggons, von den Schlägen der Puffer. Ein Sprung,
dann ist der Erste auf einem Wagen, krallt sich irgendwo fest, klettert höher,
bis er die offene Ladefläche erreicht. Dann der Zweite, der Dritte. Oben
schaufeln sie mit bloßen Händen hastig Kohlen in ihre Säcke. Magere Bengel mit
staubigen Haaren und rußverschmierten, nackten Armen.
»Manche von denen denken, sie seien Apachen aus einem Roman von Karl
May. Die Älteren sind aber schon professionelle Gauner.«
Stave starrt gebannt auf den Zug, wo die meisten Jungen in wenigen
Augenblicken ihre Beute zusammengerafft haben. Ein dumpfer Schlag, als der
erste, schwere Sack vom Wagen hinab auf die Trasse geschleudert wird. Sein
Besitzer schlängelt sich am Waggon hinunter, bis dicht über die Eisenräder,
springt ab, rollt über den Boden, rappelt sich auf und greift, noch benommen,
seinen Sack. Er ist so schwer, dass er ihn nicht über die Schulter werfen,
sondern bloß hinter sich herziehen kann. Der nächste Junge ist unten, dann der
nächste. Einer bricht neben dem Zug unter seiner Last zusammen, ein magerer
Kerl, den Stave auf höchstens zehn Jahre schätzt. Er hat sich zu viele Kohlen
in seinen Sack geschaufelt. Nun kann er ihn nicht einen Meter vorwärts zerren.
Niemand hilft ihm.
Der letzte Waggon, das Dröhnen der Lokomotive, das Kreischen der
Eisenräder verweht.
»Vorsicht!«, flüstert Kleensch. »Jetzt rennen die Jungen ins
Gebüsch, bevor ein Polizist aufkreuzt. Sie werden uns sehen, und das wird sie
gar nicht glücklich machen. Wir sollten verschwinden.«
Staves Blick ist auf einen der Jungen gefallen – jenen, der als
Erster den Zug geentert und seine Beute zusammengerafft hat. »Ich werde
bleiben«, erwidert er und deutet auf den Bengel. »Den werde ich mir vornehmen.«
»Das ist der Boss der Bande.«
»Mal sehen, ob er sich an mich erinnert«, sagt Stave und entsichert
seine Pistole.
Der Oberinspektor windet sich quer durch das Gebüsch und
eilt die wenigen Meter bis zum Bahndamm. »Guten Morgen, Jim«, sagt er.
Der Junge zuckt zusammen, lässt den schweren Kohlensack fallen – und
hält plötzlich ein rostiges Wehrmachtsmesser in der rechten Faust, das er aus
dem Gürtel gezogen hat.
»Das machst du nicht zum ersten Mal«, fährt Stave anerkennend fort.
Seine Rechte ist in der Hosentasche verschwunden, umklammert die FN 22.
Hoffentlich muss ich nicht auf den Bengel schießen, denkt er.
Drei, vier Jungen treten näher, die Älteren der Gruppe, während die
Kleineren rasch im Unterholz verschwinden. Die Bengel halten Baulatten und
schwere Steine in den Händen.
»Sie sind das, Herr Kommissar!«, ruft der Anführer, der sich von
seinem ersten Schrecken erholt hat.
»Das heißt jetzt Oberinspektor.«
»Seit wann kümmert sich die Kripo um ein paar verschwundene
Kohlensäcke?«
»Was du gerade gemacht hast und was da in dem Sack ist, das will ich
offiziell gar nicht wissen. Mich interessieren andere Dinge.«
»Verhaften Sie mich nicht?«
»Nicht wegen deiner Herumturnerei auf dem Zug. Ansonsten hängt das
ganz von deinen Antworten auf meine Fragen ab.«
»Klingt wie ein Handel, den ich nicht ablehnen kann.« Der Junge
steckt sein Messer in den Gürtel und winkt seinen Kameraden zu. »Der ist in
Ordnung. Wir sind alte Bekannte.«
»Ihr dürft gehen«, setzt Stave beruhigend hinzu. Die Sache droht,
aus dem Ruder zu laufen. Er wird an diesem
Weitere Kostenlose Bücher