Schieber
Workuta und ist ein paar Wochen vor
mir zurückgekehrt. Seine Eltern hatten einen Schrebergarten. Sie sind 1943
gestorben. Den Garten hatten irgendwelche Leute in Beschlag genommen.«
»Irgendwelche Leute?«
Karl zuckt mit den Achseln. »Irgendwer hat sich selbst dort
einquartiert. Mein Freund hat sie hinausgeworfen.«
»Die sind freiwillig gegangen?«
»Mein Freund hatte die besseren Argumente. Die hat er bei der
Wehrmacht gelernt.«
Das gefällt mir nicht, denkt Stave. Karl hat den Namen dieses
Freundes nicht genannt, er fragt ihn nicht danach. Aber er macht sich Sorgen,
dass der Junge sich mit den falschen Leuten abgibt. »Wann wirst du gehen?«
»Gleich. Ich habe meine Sachen schon gepackt. Sind ja nicht viele.«
Stave tut so, als stolpere er, damit es nicht auffällt, dass er sich
an einer Ziegelmauer abstützt. »So schnell?«
»Ich ziehe ja nicht fort aus Hamburg.«
»Was wirst du machen?«
»Erst einmal Tabakblätter abschneiden und trocknen.«
»Sie suchen schon Männer in Mangelberufen, Maurer, Installateure.«
Karl blickt auf die Ruinen und lacht bitter. »Kann ich mir denken.«
»Automechaniker, für die Engländer. Und sogar Schiffbauer.«
Sein Sohn blickt ihn mitleidig an. »Ich habe mich gestern umgehört.
Ein Kamerad von mir bewacht jetzt ein Hotel der Engländer, früher fuhr er mal
als Offizier auf einem Dampfer zur See. Einer ist Streckenwärter bei der
Eisenbahn. Einer verkauft Buddelschiffe auf dem Schwarzmarkt. Ich züchte nun
halt Tabak. Man passt sich an.«
Dafür hast du nicht Abitur gemacht!, will Stave herausschreien. Doch
er bezwingt sich. Vielleicht kommen die Jungen tatsächlich besser mit den neuen
Zeiten zurecht als wir Alten, die das alles vermasselt haben. Den Rest des
Weges legen sie schweigend zurück. Stave geht langsamer – nicht nur, weil er
erschöpft ist, sondern auch, um die Zeit auszudehnen, die er noch mit Karl
verbringt. Vergebens zermartert er sein Hirn nach einem Thema, über das er noch
unbefangen mit ihm reden könnte. Das kann doch nicht sein, denkt er traurig und
ratlos, dass er erst vor ein paar Tagen von den Toten auferstanden ist, und wir
haben uns schon nichts mehr zu sagen.
In seiner Wohnung beobachtet er, wie Karl seine wenigen
Kleidungsstücke in einen alten, ledernen Schultornister stopft, den er sich
irgendwo besorgt haben muss. An den Riemen, die den Deckel geschlossen halten,
fingert sein Sohn mit der verkrüppelten Hand lange herum. Stave muss den Impuls
unterdrücken, hinzuzueilen und den Knoten zu lösen.
»Bleibst du zum Abendessen?«
Sein Sohn schüttelt den Kopf. »Im Laubengarten gibt es
Kartoffelsuppe und danach einen Schreberstolz in der Pfeife. Ich falle dir
nicht mehr zur Last.«
»Du fällst mir nicht zur Last!«
Zum ersten Mal seit Stunden blickt ihn Karl nachdenklich an. »Ich
bin erwachsen«, sagt er langsam, beinahe zärtlich. »Erwachsener, als du dir
vorstellen kannst. Ich habe die Front und das Lager hinter mir, ich werde
wahnsinnig, wenn jemand längere Zeit mit mir im selben Raum ist. Für meinen
Freund werde ich den Schrebergarten bewachen, er ist die meiste Zeit nicht da.
Hat schon einen guten Schnitt gemacht und wieder eine Wohnung bekommen. Und ich
habe meine Ruhe. Und du auch – falls du diese Frau wieder treffen willst.«
Stave schließt die Augen. »Anna drängt dich nicht aus der Wohnung.
Sie will das nicht. Ich will das auch nicht.« Falls sie überhaupt je wieder
einen Fuß in diese Wohnung setzt, ergänzt er im Geiste.
»Trotzdem ist es besser, wenn ich gehe.«
»Wirst du denn wenigstens hin und wieder vorbeischauen?«
»Ich melde mich.«
Karl nickt, die linkische Geste eines halbwüchsigen Jungen bei einem
zu früh alt gewordenen Mann. Dann zieht er die Eingangstür hinter sich zu.
Stave lauscht am Holz, bis seine Schritte im Treppenhaus verklungen sind. Es
ist sehr still in der Wohnung.
Stave starrt lange auf die geschlossene Tür. Die
Traurigkeit und das Gefühl des Scheiterns drücken ihn wie Zentnerlasten nieder.
Danach reißt der Oberinspektor Fenster und Balkontür auf, weil er das Gefühl
hat zu ersticken – vergebens, die Luft ist flüssiges Blei. Er sucht alle
Flaschen, Töpfe und leeren Einweggläser zusammen, die er in den Küchenschränken
finden kann, und füllt sie an der Spüle mit dem rostroten Wasser ab. Besser jetzt
alles sammeln, was er noch bekommt. Die Badewanne lässt er ebenfalls
volllaufen, auch wenn er ahnt, dass die Brühe, steht sie erst einmal in der
Wanne, hässliche
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