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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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Ehrlich zu gehen, um ihn zur Verhaftung des jungen
Meinke zu überreden. Wird Anna dem Staatsanwalt erzählen, dass er sie beide
beobachtet hat? Wird die Zusammenarbeit mit Ehrlich nicht gerade vereinfachen,
von seinem Privatleben ganz abgesehen. Falls er nach diesem Gespräch überhaupt
noch ein nennenswertes Privatleben hat.
    Als er endlich die Ahrensburger Straße erreicht, passiert er eine
lange Reihe Wartender vor einer öffentlichen Pumpe: Männer, Frauen, Kinder,
Blechdosen, Eimer, Glasflaschen und geriffelte Trinkflaschen der Wehrmacht in
den Händen. Bewohner der Wohnungen in oberen Stockwerken, in denen gar kein
Wasser mehr aus den Hähnen rinnt. Kieselalgen, so hat Stave irgendwo gelesen,
verstopfen inzwischen die Filter im Hauptwasserwerk. Hätte nicht gedacht, dass
sich die Hamburger mal nach einem ordentlichen Regen sehnen werden, denkt er
mitleidig, während er die Menschen passiert, die unter der Sonnenglut apathisch
warten. Selbst für den üblichen Klatsch fehlt ihnen die Kraft. Drei
Halbwüchsige lungern neben der Pumpe herum. Sie bieten jedem, der endlich an
der Reihe ist, an, für ihn den schweren Pumpenschwengel zu bedienen. Viele sind
so ermattet, dass sie den Bengeln für diesen Dienst tatsächlich einige Münzen
zuwerfen. Kluge Bürschchen, denkt Stave. Er merkt sich ihre Gesichter. Sie
werden ihm auf der Ahrensburger Straße wohl noch öfter über den Weg laufen.
    Erst als er den Schlüssel schon ins Schloss seiner Wohnungstür steckt,
fällt ihm ein, dass er keine Blumen dabei hat.
    »Du bist pünktlich«, begrüßt ihn Karl. Er klingt überrascht.
    Stave will ihm ein scharfes Wort entgegenschleudern, schluckt es
aber gerade noch rechtzeitig hinunter. Er ist ausgebrannt nach dem Fußweg,
erschöpft vom Streit mit Anna. Er hätte sich jetzt gerne für eine Viertelstunde
auf sein Bett gelegt, das verfluchte Gelenk massiert, ein wenig nachgedacht.
Stattdessen sagt er, eine Spur zu laut: »Es ist ein langer Marsch bis zum
Friedhof. Wir sollten nicht herumtrödeln.«
    »Bin lange nicht mehr marschiert«, antwortet sein Sohn sarkastisch.
Stave entgeht nicht, dass Karl dabei auf sein verkrüppeltes Bein blickt, ganz
kurz nur. Er weiß nicht, ob verächtlich oder eher mitleidig.
    Sie brauchen eine Stunde bis zum Öjendorfer Friedhof. Manchmal
wandern sie auf freigeräumten Straßen, manchmal auf Trampelpfaden zwischen
Schutthügeln, die so schmal sind, dass sie hintereinander gehen müssen. Stave
ist es ganz recht so, denn dann wirkt das Schweigen zwischen ihm und seinem
Sohn weniger drückend. Er betrachtet Karl, der vor ihm ausschreitet. Sein Sohn
massiert mit der Linken unbewusst den verstümmelten rechten Zeigefinger, so,
als wolle er das fehlende Glied aus dem Stumpf herausdrücken.
    »Ich wusste nicht, dass du alle Abkürzungen durch diese Einöde
kennst«, sagt Stave, um überhaupt etwas zu sagen.
    »Ich bin manchmal zum Friedhof gegangen«, antwortet Karl, ohne sich
umzublicken.
    Stave wäre vor Überraschung beinahe über einen wackeligen,
scharfkantigen Betonbrocken gestolpert. Nach der Trauerfeier waren er und sein
Sohn niemals mehr zusammen bis nach Öjendorf gegangen. Er hatte gedacht, dass
Karl das Grab seiner Mutter seither gar nicht mehr besucht hat.
    »Warst du oft bei ihr?«, fragt er vorsichtig.
    »Hab es nicht gezählt. Die Toten führen nicht Buch.«
    Manche Schutthaufen sind wie hüfthohe archaische Gartenmauern,
kleine Wälle aus Steinen, beinahe kunstvoll zu Barrieren aufgeschichtet, die
sich längs der Trampelpfade winden. Dahinter Trümmerberge, fast noch so hoch
wie die Häuser, die früher hier standen. Die Ziegel strahlen Hitze ab, in den
Schluchten der Ruinen steht ein staubiger Dunst, der Staves Augen rötet. Fehlt
bloß noch, dass ich anfange zu heulen, denkt er und wischt sich verstohlen mit
einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. Was auch immer Karl in Workuta
widerfahren sein mag: Seine Kraft hat er nicht verloren, im Gegenteil. Stave
hätte längst seine Schritte verlangsamt, würde er dann nicht auffällig weit
hinter seinem Sohn zurückfallen.
    Der biegt plötzlich vom Pfad ab, ersteigt einen doppelt mannshohen
Schuttberg. »Hast du die Orientierung verloren?«, fragt Stave verwundert. »Wir
sind gleich da.«
    »Eben drum«, erwidert Karl. Dann beugt er sich zum Boden hinunter.
    »Was suchst du da?«
    »Ein kleines Mitbringsel für Mutter.« Er richtet sich auf, in seiner
rechten Hand drei blaue und zwei silbern blühende Disteln, die aus den Ritzen
der

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