Schieber
Ruinen
durchkämmen müssen. Und die Frage ist, ob wir den je erwischen.«
»Tatmotiv?«
»Wird wohl ein Streit sein. Die Kerle prügeln sich hier andauernd.
Und manchmal wird es schlimmer. Das war nicht der erste Mord unter
Kohlenklauern. Und das wird auch nicht der letzte gewesen sein. Denen fehlt
halt eine züchtende Hand.«
»Das wird es wohl sein«, sagt Stave müde und nickt dem Schupo zum
Abschied zu.
Frühe Tode
Mittwoch, 11. Juni 1947
Graues Licht flutet durch das Fenster, die Sonne steht
noch unter dem Horizont, als Stave aus dem Schlaf schreckt. Sein alter Albtraum – und doch ganz anders: Er stolpert durch Ruinen, sein linkes Fußgelenk ist
wieder gesund, er spürt die Hitze des Feuers im Gesicht, ist fast bei seiner
Frau. Da steht plötzlich Anna in den Flammen, die ihren Arm schützend vor die
Brust legt und sich von ihm abwendet. Auf dem Kamm einer zerstörten Mauer steht
Karl und singt dazu ein Kinderlied, das Stave kennt und dessen Text er doch
nicht verstehen kann. Er hat die Melodie noch im Kopf, als er endlich
schweißgebadet aus dem Schlaf hochschreckt. Er blickt zur Balkontür, die er gestern
wegen der Hitze offen gelassen hat. Ob er so laut geschrien hat, dass ihn ein
Nachbar hören konnte? Oder ob er gar bis hinunter zur Ahrensburger Straße zu
hören war? Wenn er bei nächtlichen Einsätzen über die von der Ausgangssperre
freigefegten Straßen geht, weht manchmal Stöhnen und Schreien aus einem Haus
oder einer Nissenhütte. Es ist ihm jedoch bislang nie in den Sinn gekommen,
dass auch er sich an diesem geisterhaften Konzert beteiligt. Peinlich berührt
steht er auf und schließt die Tür, bemüht, so weit im Innern der Wohnung zu
bleiben, dass ihn niemand sehen kann.
Gut, dass er gestern Wasser gesammelt hat. Nur noch Tropfen rinnen
aus dem Hahn. Er seift sich ein, wäscht sich mit dem gesammelten Nass, auf dem
ein schmieriger Film steht. Dann reibt er sich mit einem rauen Tuch ab, bis
seine Haut schmerzt. Wasser aus einem der Töpfe für den Kaffee. Er verzieht das
Gesicht. Ich muss heute rechtzeitig nach Hause kommen, sagt sich Stave, damit
ich noch vor Einbruch der Dunkelheit zur nächsten Wasserpumpe gehen kann.
Er hinkt die Ahrensburger Straße hinunter. Eine Stunde Fußmarsch,
der ihm die letzten Schleier des Albtraumes aus dem Hirn treiben wird. Anna und
Karl, nicht mehr Margarethe. Ob ihm da sein Traum nicht einen bösen Streich
spielt? Ich kann besser mit den Toten umgehen als mit den Lebenden, denkt
Stave, wahrscheinlich bin ich deshalb bei der Mordkommission.
Dann ruft er sich zur Ordnung: Ob er sich besser auf die Toten
versteht, ist noch längst nicht erwiesen. Den Mörder von Adolf Winkelmann hat er
nicht. Wenn Wilhelm Meinke etwas mit der Tat zu tun hatte, dann ist es jetzt zu
spät, ihn noch einmal zu befragen. Rächt eines der Wolfskinder das Ende des
jungen Winkelmann? Reicht das als Motiv? Oder wurde Meinke zum Schweigen
gebracht, weil er etwas wusste? Weil es für Winkelmanns Mörder sicherer ist,
auch ihn auszuschalten? Aber wenn die zweite Tat tatsächlich von einem
Wolfskind verübt worden ist, könnte es auch das Verbrechen bei Blohm & Voss
verübt haben? Was hätte es dort zu schaffen? Und warum sollte ein Wolfskind ihn
umgebracht haben? Weil er sich, der Hamburger Junge mit guten
Schwarzmarktverbindungen, in die Welt der Wolfskinder hineindrängte?
Stave überlegt, wie er sich in die Ermittlungen in Sachen Meinke
einschalten kann. Cäsar Dönnecke ist sechzig Jahre alt, Kaiserreich, Weimarer
Republik, Nazizeit, englische Besatzung – er ist immer dabei gewesen. Im
Dritten Reich hat er unter Kollegen den Eindruck erweckt, dass er in der Partei
sei. Rechts genug war er jedenfalls. Doch offenbar war er auch so vorsichtig
oder vorausschauend, dass er der NSDAP doch nicht beigetreten ist. Jedenfalls
haben sich die Briten zwar seine Akte im Mai 1945 gründlich vorgenommen und ihn
auch einige Wochen vom Dienst suspendiert, doch dann war Cäsar Dönnecke von den
Geächteten wiederauferstanden und auf seinen alten Posten gesetzt worden.
Keiner, dem Stave etwas befehlen könnte. Und keiner, der ihm, den die Briten
als Unbelasteten beförderten, einen Gefallen täte.
Eine Verbindung gibt es allerdings zwischen Adolf Winkelmann und
Wilhelm Meinke, die nur er kennt: Hildegard Hüllmann. Ich werde mir das junge
Freudenmädchen noch einmal vornehmen, sagt sich der Kripobeamte. Die gehört zu
meinem Fall.
Erna Berg ist blass unter dem Sonnenbrand auf ihren
Wangen.
Weitere Kostenlose Bücher