Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
Vom Netzwerk:
Trümmerhaufen gewachsen sind. »Zähe Dinger«, sagt er, »kein Wunder, dass
Mutter Disteln immer so mochte, trotz der Stacheln. Ist nicht gerade ein
Trauergebinde.«
    »Ihr wird es gefallen«, stößt Stave hervor. Ihn berührt die Geste
seines Sohnes. Seine Seele ist doch nicht ganz verdorrt, denkt er
hoffnungsvoll.
    Der Öjendorfer Friedhof ist die Totenstadt Hamburgs: ein Park im
Osten der Metropole, größer als ein Flugplatz, durchschnitten von Straßen, auf
denen bis zum Krieg sogar Busse verkehrten, die Trauernde an verschiedenen
Haltestellen absetzten.
    »Wir sind gleich da«, sagt Stave erneut.
    »Wir sind alle irgendwann da«, erwidert Karl, »aber hoffentlich noch
nicht gleich. Wirst du dich, wenn es so weit ist, neben Mutter beerdigen
lassen?«
    Der Oberinspektor hält inne. »Warum fragst du das?«
    »Wegen dieser anderen Frau.«
    »Diese andere Frau heißt Anna von Veckinhausen. Und ich weiß nicht
einmal, ob ich mit ihr leben, geschweige denn, ob ich neben ihr sterben werde.
Ich überlasse es dir, wo du meine Asche vergraben wirst.«
    »Ich werde mich darum kümmern«, antwortet Karl – und Stave weiß
nicht, ob er das sarkastisch gemeint hat oder todernst.
    Ein Urnenhain, einige Hundert Meter hinter dem Haupteingang: ein
Rosenstrauch, ein Lavendelstrauch, die Blütenköpfe noch grün und verschlossen
und nur ganz schwach duftend, immergrüne Sträucher, ein Ring aus Zypressen und
Weiden, zerzaust von den Äxten der Holzsammler. In der Mitte ein leerer Sockel.
Früher stand dort die halb lebensgroße Bronzestatue einer trauernden Frau, doch
irgendwann wurde sie gestohlen. Im Halbrund sind Dutzende Urnen vergraben, im
Sommer 1943, als niemand mehr Zeit und Kraft hatte für Reihe in Reihe angelegte
Gräber.
    Stave blickt nicht auf die Stelle, unter der die Urne mit
Margarethes Asche ruht. Er sieht starr auf den leeren Sockel, unfähig, noch ein
Wort zu sagen, überwältigt von Trauer. Mach dir nichts vor, denkt er, da ist
noch etwas Anderes, Neues. Scham. Scham darüber, dass er nun eine neue Frau
liebt. Scham darüber, dass er Karl, das sichtbarste Vermächtnis der Toten,
nicht in richtige Bahnen zu lenken vermag. Nicht in den Nazijahren. Und jetzt
auch nicht, da er nicht einmal weiß, was er nun tun oder sagen soll.
    Sein Sohn legt die Disteln am Boden über der Urne ab. Eine linkische
Geste, einen Augenblick denkt Stave gar, sein Sohn würde die Hände falten wie
zum Gebet, doch dann verschränkt er sie hinter seinem Rücken.
    So stehen sie da, stumm und förmlich und irgendwie deplatziert.
Stave versucht, im Geiste mit Margarethe zu reden, ihr sein Leben zu erklären.
Doch er kommt sich lächerlich dabei vor. Ein Gebet? Das letzte hat er bei
seiner Konfirmation gesprochen, eine heruntergeleierte Wortkaskade ohne
Bedeutung. Soll er seinem Sohn die Hand auf die Schulter legen? Eine Geste, die
ihm irgendwie verlogen vorkommt. Und so bleibt er stehen, drei Schritte vor dem
leeren Sockel, drei Schritte neben seinem stummen Sohn.
    »Immerhin ist Mutter zu Hause«, sagt Karl unvermittelt und dreht
sich um. Dann strebt er mit denselben langen, kraftvollen Schritten zum
Ausgang, mit denen er zuvor das Ruinenfeld durchmessen hat. Er blickt sich
nicht um.
    Stave spürt, wie ihm Schweiß vom Scheitel über den Nacken bis in den
Hemdkragen läuft. Erst als sein Sohn das Hauptportal schon passiert hat, folgt
er ihm.
    Irgendwo zwischen den Ruinen holt er seinen Sohn ein, der
auf ihn gewartet hat. »Ich werde ausziehen«, sagt Karl gleichmütig und starrt
dabei auf einen Punkt irgendwo über einem Kamin, der wie eine antike Säule
stehengeblieben ist, während das Haus, aus dem er einst ragte, niedergebrannt
ist.
    »Wohin? Wohnraum ist Mangelware.« Stave versucht, seine Stimme
gelassen klingen zu lassen, obwohl sich sein Herz vor Schmerz zusammenzieht.
    »In einen Schrebergarten, nach Berne. Kleine Hütte. Wasser aus dem
Fass, Plumpsklo, aber ein Ofen. Nicht, dass ich den in den nächsten Monaten
brauchen dürfte.«
    »Ein Schrebergarten?«, entfährt es Stave. Früher hat er sich um
derartige Parzellen nie gekümmert, fand die Welt der Laubenpieper langweilig.
Seit 1945 sind Schrebergärtner kleine Könige, die auf ihren eifersüchtig
gehüteten Territorien Kartoffeln, Salate und Tabak ziehen. Wer einen hat, kann
sich mit den Erträgen einer guten Saison ein kleines Vermögen auf dem
Schwarzmarkt ertauschen. »Wer lässt dich freiwillig in seinem Schrebergarten
wohnen?«
    »Ein Kriegskamerad. War auch in

Weitere Kostenlose Bücher