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Schief gewickelt (German Edition)

Schief gewickelt (German Edition)

Titel: Schief gewickelt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Sachau
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gestürzten Grillwalker beschäftigt. Gerade, als ich damit beginne, nach einer Machete zu suchen, um mir damit einen Weg freizuhauen, merke ich, dass Daniel schon wieder an meinem Bein hängt.
    »Der Grillwohker hat mir auf den Fuß getretet.«
    Ich sehe mich um. Keiner nimmt von uns Notiz.
    »Die Wurst ist runtergefallt. Kannst essen.«
    Er hält eine leicht beschmutzte, halbgare Thüringer hoch. Im Hintergrund sehe ich, dass die Leute den Grillwalker mit vereinten Kräften wieder auf die Beine gestellt haben. Er hat es also zumindest überlebt.
    »Daniel, wir haun ab. Schnell.«
    Rein in den Untergrund. Zehn Sekunden später sitzen wir in einer U-Bahn und sausen davon. So, erst mal hinsetzen, durchatmen und neu orientieren. Wir befinden uns in der U2. Richtung Ruhleben. Noch ein paar Stationen, dann sind wir am Potsdamer Platz. Da ist auch ein Saturn, denke ich mir, während Daniel die halbgare Thüringer in mich reinstopft. Dort kennt uns noch keiner.
    Hätten wir eine andere U-Bahn als Fluchtfahrzeug benutzt, hätte ich mich sicher eher nach Hause orientiert. Meine Kraft- und Nervenreserven gehen inzwischen dermaßen gegen null, dass mich, wenn ich eine Computerspielfigur wäre, jeder verantwortungsvolle Computerspieler erst mal für längere Zeit ins virtuelle Lazarett gesteckt hätte. Aber die Aussicht auf einen neuen Laptop mobilisiert ja oft auch noch die letzten männlichen Kraftreserven. Und wenn wir schon mal in der richtigen U-Bahn sitzen …
    Am Potsdamer Platz spucke ich, als Daniel kurz nicht aufpasst, die noch nicht heruntergeschluckten Reste der halbgaren Thüringer in einen Mülleimer. Dann versuchen wir Kurs auf die Shopping Mall zu nehmen. Irgendwie habe ich es hier noch nie geschafft, auf Anhieb den richtigen Weg zum Eingang zu finden. Unglaublich, wie viel Volk heute auf den Beinen ist. Was machen die nur alle hier? Und unhöflich sind sie auch noch. Ich bin schon dreimal kräftig angerempelt worden, ohne dass sich jemand entschuldigt hätte. Ich glaube, ich tue wirklich gut daran, diese Gegend hier normalerweise zu meiden.
    Langsam merke ich, dass die Menschen alle in eine Richtung streben und wir unerbittlich mitgezogen werden. Als Teenager bin ich mal in München in den Sog des Oktoberfesthaupteingangs geraten. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs und versuchte ganz naiv den Menschenstrom zu durchqueren. Es wurden immer mehr Leute. Ich musste absteigen, wurde aber trotzdem immer weiter abgetrieben. Mein Fahrrad war wie ein Treibanker, der mich in ein schwarzes Loch zog. Ehe ich michs versah, hatte ich einen besoffenen Drei-Zentner-Lederhosenmann auf dem Gepäckträger sitzen, der um keinen Preis der Welt wieder absteigen wollte. Die Menschen ballten sich so dicht um mich und meinen lallenden Fahrgast, dass ich mich nicht einmal mehr umdrehen konnte. Am Ende ließ ich das Fahrrad Fahrrad sein und rettete mein nacktes Leben.
    Genau in dieser Situation stecke ich jetzt. Bevor ich merke, was da läuft, ist schon alles zu spät. Der Buggy steckt hoffnungslos im Gewühl und zieht mich mit in die Richtung, in die heute anscheinend alle wollen. Ich kann nur noch den Griff sehen. Was mit Daniel ist, ob er noch sitzt, ob ihn jemand geklaut hat oder ob sich ein Drei-Zentner-Mann auf ihn gesetzt hat, keine Ahnung. Die Panik gibt mir genug Kraft, um mich zu ihm durchzuwühlen. Ich reiße ihn hoch und setze ihn auf meine Schultern. Der Buggy geht irgendwo in den drängelnden Massen unter. Jetzt geht ein Raunen durch die Menge. Digitalknipsen werden hochgehalten und fangen an, Blitze zu spucken. Der Sog hält weiter an. Es geht schnurstracks in eine Richtung, ohne dass ich irgendwie Einfluss darauf nehmen könnte. Irgendwann ist die Menschenleiberdichte aber so groß, dass nichts mehr vorangeht. Von hinten wird aber erbarmungslos weiter gedrückt und geschoben. Ich werde geknufft und gepufft und schwanke in alle Richtungen. Ein Glück, dass ich hier wenigstens nicht umfallen kann. Daniel thront hoch über allem und quietscht vor Vergnügen.
    »Papa! Blitzt!«
    Der Druck von hinten wird immer größer, aber die Menschenwand vor mir gibt nicht nach. Ich bekomme kaum noch Luft und fange an, Sterne zu sehen. Gibt es hier irgendwo einen Zwei-Meter-Hünen mit breiten Schultern, dem ich Daniel anvertrauen kann, bevor ich das Zeitliche segne? Ich brauche ein Wunder. Lange Zeit geschieht nichts. Ich staune, wie viel Überlebenswille nach einem Tag wie diesem noch in mir steckt. Wenn Daniel nicht auf meinen Schultern

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