Schiff der tausend Träume
Rhythmus der sich verflechtenden Fäden. Sie dachte an Spinnweben, Schlaufen und Verbindungen mit Lücken dazwischen. Ihr Verstand war wie ein Stück Spitze, voller Löcher und Zwischenräume, verbunden mit Sorgenfäden, die sich um die Stecknadeln schlangen; Joe und Ellen. Ella, der Ozean und jene entsetzliche Nacht. Würden die Albträume denn nie aufhören?
Wie sollte sie aus allem jetzt schlau werden? Sie war zu erschöpft und ängstlich, aber sie könnte Fäden flechten und etwas wachsen lassen. Sie setzte sich, beobachtete und wunderte sich über die zarten Spulen, die wie winzige Finger auf dem Klöppelkissen tanzten. Das war etwas, das sie probieren konnte.
Später, als sie um das Außengebäude herumging, spürte sie, dass St. Matthew’s nicht das Armenhaus war, das sie befürchtet hatte. Es erhob sich majestätisch wie eine Burg aus Backstein aus dem Dunst, und die Größe schüchterte sie ein. Sie hatte von der Einrichtung gehört, sie aber noch nie gesehen. Hier musste sie nicht nachdenken oder Mahlzeiten zubereiten, sondern konnte einfach nur im weiträumigen Speisesaal sitzen und sich bedienen lassen. Man gab ihr Hilfsarbeiten, aber sie hatte Zeit genug, sich an die Klöppel zu setzen, sich im Flechten zu verlieren und eine neue Fertigkeit zu lernen, die ihre steifen Finger lockerte.
Das Leben hier war unwirklich, das alles war nicht die Realität. Man hatte sie aus der richtigen Welt in dieses Herrenhaus gebracht, damit sie sich ausruhen konnte, aber jenseits des Tales gab es das Mädchen, an das sie denken musste. Ella hatte nicht verdient, was mit ihr geschah. Sie war noch ein Kind, verwirrt und verängstigt, jetzt quasi verwaist. Wer kümmerte sich um sie? Wenn sie, May, nur nicht so müde und schwerfällig wäre. Vielleicht ging es Ella besser ohne sie? Wer wünschte sich schon eine Mutter wie sie?
In den Wochen nach dem schrecklichen Ausflug ans Meer waren alle in der Schule freundlich zu Ella. Sie hatte das Gefühl, als gingen alle auf Zehenspitzen um sie herum, als trüge sie ein Schild um den Hals, auf dem stand: »Ihre Mutter ist eingesperrt. Sie hat niemanden, der sich um sie kümmert, also hört auf zu gaffen.« Aber das stimmte nicht. Hazel war nett, und ihre Mutter ließ Ella bei sich wohnen, auf einem Feldbett in Hazels Zimmer. Sie verstand nicht, warum Mum mit zusammengebundenen Armen abgeführt werden musste, oder warum sie ihre Mutter nicht in St. Matthews besuchen durfte. Mrs Perrings versuchte es ihr zu erklären.
»Sie braucht Ruhe, mein Schatz. Sie hat unter hoher Belastung gestanden. Als sie das Wasser sah, nun, da hat es sie an deinen Vater erinnert und wie er ertrunken ist. Die Ärzte werden sich ihrer annehmen. Sie würde sich wünschen, dass du weiterhin zur Schule gehst. Ich bin bei Kanonikus Forester und beim Kolleg vorbeigegangen, und die werden sie besuchen, und sie wird bekommen, was sie braucht … Keine Bange. Wir werden ihre Post einsammeln und ein paar Sachen für dich holen.«
Ella hatte nur eine Frage: »Wie lange wird sie da drinnen sein?«
»Bis die Ärzte meinen, dass sie gesund genug ist, um nach Hause zu kommen, aber mach dir keine Sorgen, du kannst eine Weile hierbleiben, bis wir weitersehen.«
Mit Hazel zusammen zur Schule zu gehen, war schön, und Miss Parry gab ihr eine Beschäftigung, wenn sie traurig wirkte. Sie vermisste Lombard Gardens und die Aussicht aus ihrem Zimmer über den Stowe Pool. Sie hatte keine Gelegenheit, zur Kathedrale zu gehen, da die Perrings Methodisten waren und sie an Sonntagen zu deren Kirche an der Tamworth Street gehen musste.
Dort wusste niemand, dass ihre Mutter fortgeschickt worden war, und schon bald, während die Tage sich hinzogen und zu Wochen wurden, begann sie sich daran zu gewöhnen, bei dieser neuen Schwester und deren Mutter zu wohnen und Onkel George, den Soldaten, zu treffen.
Am ersten gemeinsamen Sonnabend spielten sie am Bach in Netherstowe, und Ella fiel der kleine Schrein an St. Chad ein, der ihr Wunschbrunnen gewesen war, bedeckt mit einem Dach aus Efeu. Als Hazel bei ihrer Klavierstunde war, ging sie die Straße hinunter zu dem Brunnen und sprach ein langes Gebet zu dem Heiligen, in dem sie ihn bat, sich zu beeilen und ihre Mum gesund zu machen. Warum war Mum nicht nach Hause gekommen? Wollte sie Ella nicht mehr sehen? Stimmte es, dass sie nicht ihre richtige Tochter war? Sie musste die Wahrheit herausfinden. Da kam ihr die großartige Idee.
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»Wir wollen Mrs Smith besuchen«, verkündete
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