Schiff der tausend Träume
Mutter. Das ist ja schrecklich … was können wir tun?« Beim Anblick der gebrochenen Frau hätte Celeste am liebsten geweint. May erinnerte sie an die zwangsernährten Opfer bei der Kampagne für Frauenrechte, gebrochen von der Pein und dem Gefühl, versagt zu haben, weil sie Essen schluckten, um zu überleben.
»Die Zeit wird sie heilen, Celeste. Sie braucht jetzt Ruhe.« Ihr Vater berührte ihre Schulter. »Der Verstand ist ein Rätsel. Einige unserer Studenten am Kolleg waren nach dem Krieg sehr verändert, manche sind vom Glauben abgefallen, andere wiederum müssen sich einer stationären Behandlung unterziehen, um von Alkohol und anderen Suchtmitteln loszukommen. Der Krieg zerstört viel mehr als Gebäude, Maschinen und Menschenleben. Ich bin mir sicher, dass May wieder gesund wird. Ich schließe sie jeden Abend ins Gebet ein. Lass uns jetzt lieber gehen. Ich glaube, wir bringen sie aus der Fassung.«
Celeste war noch nicht bereit zu gehen. »Hat sie ihre Tochter schon gesehen?«, fragte sie. »Das könnte sie aus dieser Traumwelt reißen und wieder ins wahre Leben zurückführen.«
»Kinderbesuch ist nicht gestattet. Es ist nicht ratsam. Dadurch werden die Patienten nach meiner Erfahrung noch mehr aufgebracht«, antwortete die Schwester energisch.
Als sie durch den langen, gekachelten Flur gingen, schauderte Celeste beim Anblick so vieler schlurfender Menschen, die in ihrer eigenen Welt gefangen waren. Sie hatte von solchen Einrichtungen gehört, und diese hier war besser als die meisten, hell, luftig, sauber und geräumig, aber sie war auch kalt und nüchtern, riesengroß, ohne das Gefühl eines Zuhauses zu vermitteln. Wie sollte May hier gesund werden, abgeschnitten vom richtigen Leben? Ihr Kind nicht zu sehen, zu leugnen, seine Mutter zu sein, war wirklich Wahnsinn. Wie war sie auf diesen Gedanken gekommen? Sie wirkte derart benebelt, so distanziert, in ihrer eigenen Phantasiewelt verloren. Ihre Augen wirkten wie die eines toten Fisches, glasig, leer, ihre Haare strähnig und fettig. Das Kleid schlabberte an ihren Schultern. Wie war es dazu gekommen, dass sie so hoffnungslos und leblos war, wie eine leere Muschelschale?
Hatte May ihre Tortur auf der
Titanic
nur überlebt, um als Schatten ihres früheren Selbst zu enden und ihre Tochter zu einer Waisen zu machen? Sie musste doch etwas unternehmen können, um May wieder ins Leben zurückzuführen, ihr etwas geben, für das es sich zu leben lohnte.
Ihr fiel ein, was Archie McAdam gesagt hatte, wie sein Schiff von einem Torpedo getroffen wurde und er sich an die Rettungsboje geklammert hatte, wohl wissend, dass ihm und seinen Kameraden nur noch wenige Stunden zu leben blieben. Wie er alle dazu gebracht hatte, Lieder und Choräle zu singen, wie er den Männern Geschichten und Witze erzählt und sie aufgefordert hatte, an ihre Familien zu Hause zu denken, wie er ihnen gesagt hatte, sie müssten dorthin zurückkehren und wach bleiben. »Ich weigerte mich einfach aufzugeben«, hatte er gesagt und sein leises Lächeln aufgesetzt, die Augen randvoll mit Leben. Sie hatten schon einen Brief mit seiner neuen Anschrift erhalten, und sobald sie ihn geöffnet hatte, wusste Celeste, dass sie antworten würde.
Das Leben geht voran, nicht rückwärts. Sie wollte jetzt nicht an die Zeit in Akron denken. Wäre sie in einer solchen Einrichtung gelandet, wenn sie nicht vor Grover geflohen wäre? Sie war immer weiter vorwärtsgeschritten, erleichtert, wieder zu Hause in der vertrauten Umgebung zu sein. Man musste May aus diesem schrecklichen, düsteren Abgrund heraushelfen. Worum ging es hier? Sie musste mehr herausfinden.
Jetzt hatten sie sich wieder bei Selwyn im Red House in der Nähe von Streethay niedergelassen, wohnten in dem alten, verschachtelten Gebäude, vollgestopft mit Möbeln der Familie. Seine einstweilige Haushälterin hatte bekanntgegeben, ihr sei die Arbeit zu viel, und so blieb es Mrs Allen, der täglichen Hilfe, überlassen, allein zurechtzukommen. Vorerst konnte Celeste sich dort nützlich machen. Das Haus war ein verwinkeltes, dreistöckiges Backsteingebäude mit acht Schlafräumen. Ein altes Bauernhaus an der Straße nach Burton on Trent, das dringend der Renovierung bedurfte. Es sah aus wie ein Puppenhaus, musste aber von oben bis unten gereinigt werden und war für einen alleinstehenden Mann viel zu groß.
Selwyn sah ein, dass Celeste und Roddy ein Dach über dem Kopf brauchten, und er hatte nicht allzu viele Fragen gestellt oder nachgebohrt, was
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