Schiff der tausend Träume
allen verdorben, und Ella fühlte sich wütend und verlegen, weil es die Schuld ihrer Mutter war.
Man schnallte Mum in einem Krankenwagen an und verriegelte die Tür, wie bei einer grünen Minna. Alle standen da und gafften, und Ella wäre am liebsten im Meer verschwunden und hätte sich unter Wasser versteckt.
Miss Parry kam zu ihr, um sie zu trösten. »Ich fürchte, deiner Mutter geht es nicht gut. Ich glaube, sie hat unter großem Druck gestanden, und man wird sich eine Weile um sie kümmern müssen. Keine Bange, mit der Zeit wird sie wieder gesund. Jetzt müssen wir an dich denken und uns überlegen, wer auf dich aufpassen wird. Mrs Perrings sagt, sie kann dich ein paar Tage zu sich nehmen. Ich werde im Kolleg Bescheid sagen … Es tut mir sehr leid, dass das passiert ist, Ella.«
»Was habe ich nur falsch gemacht?«, fragte sie mit verzagter Stimme.
»Gar nichts. Wie gesagt, ihr geht es nicht gut, und wenn Menschen im Geist krank sind, geben sie Unsägliches von sich. Das ist typisch für Gehirnfieber. Schlage dir solche Gedanken aus dem Kopf. Keine Bange, sie wird sich nicht mehr daran erinnern, das verspreche ich dir.«
Aber ich, dachte Ella unglücklich. »Sie hat gesagt, ich bin nicht ihre Tochter«, rief sie laut.
»Das liegt am Fieber, da redet man wirres Zeug. Natürlich bist du ihre Tochter. Nimm das nicht ernst. Komm, wir gehen alle einen Tee trinken, bevor wir zurück zum Bahnhof gehen. Hazel wird bei dir sitzen, und du kannst auf der Rückfahrt ins Ruheabteil zu den Lehrerinnen kommen. Ich bin mir sicher, dass du jetzt sehr müde bist.«
Ella sah mit starrem Blick zurück auf das wogende Meer, hörte, wie die Möwen über ihr kreisten. Die salzige Gischt und der Geruch nach Seetang stachen ihr in der Nase. Solange sie lebte, würde sie nie den Anblick vergessen, wie ihre Mutter in die Wellen rannte, als wollte sie sich ertränken. Wer wird sich jetzt um mich kümmern?, schluchzte sie so leise wie möglich.
Sie betrachtete das Wasser, das sich bis zum grauen Horizont erstreckte. Wolken ballten sich zusammen, dunkle Sturmwolken. Die Sonne wurde verdeckt, und das unruhige Meer dröhnte in ihren Ohren. Aus irgendeinem Grund waren Wellen und Wasser und Strand schuld am Fieber ihrer Mutter.
Ich will dich nie wiedersehen … ich hasse dich … ich will das Meer nie wiedersehen
.
60
Celeste stand am Bahnhof. Sie waren direkt aus Southampton gekommen, eine lange Strecke quer durch das Land, auf der sie Zeit hatte, sich an den Midland-Akzent der Stimmen zu gewöhnen, die auf den Bahnsteigen durcheinanderriefen. Die Luft am Bahnsteig war schwer vom Geruch nach Hopfen aus der nahegelegenen Brauerei, nach Eisenspänen und Ruß, und ein steifer Ostwind zerrte an ihrem Mantel.
»Schau«, sagte sie zu Roddy und wies in die Richtung. »Die Kathedralentürme.«
»Die sind nicht sehr hoch«, lautete sein einziger Kommentar.
»Wir wollen Grandpa überraschen«, sagte sie und bemerkte dann seine Verwirrung.
»Grandpa ist nicht hier, er ist in Amerika.« Seine Müdigkeit machte ihn konfus.
»Du hast das große Glück, zwei Grandpas zu haben. Komm mit, wir stecken unsere Sachen in ein Taxi.«
Roddy war von dem Fahrzeug nicht beeindruckt. »Das ist ja nur von einem Pferd gezogen – wo sind die Automobile?«
Sie waren nur mit ihrem Handgepäck gereist. Nicht viel vorzuweisen für zehn Jahre im Ausland, überlegte Celeste, aber das spielte jetzt alles keine Rolle. Sie wollte ihren Weg genau verfolgen. Welche Geschäfte erkannte sie wieder? Da war das alte Theater, jetzt ein Lichtspielpalast, der Uhrenturm, das Swan Hotel, die Gebäude des Museums und der Bibliothek sowie Minster Pool, als wäre sie gestern noch hier gewesen. Sie bogen durch das alte Tor in den Kathedralenhof ein und stiegen aus. Celeste konnte nicht aufhören zu lächeln. Was für eine Überraschung sie ihnen bieten würde. Sie zerrte ihren Sohn förmlich durch den kleinen Tunnel zum Pfarrhof und fühlte sich wieder wie ein Kind, zog an der Klingel von Nummer 4 und hoffte inständig, ihr Vater möge zu Hause sein.
Ein alter, gebeugter Mann schaute verwundert zu ihr auf. »Ach du meine Güte, komm rein, komm rein. May dachte schon, du würdest nicht lange auf dich warten lassen, aber das … und dieser junge Mann muss Roderick sein. Ich habe so viel von dir gehört.«
Celeste trat in das kleine Haus. Ein Durcheinander aus Büchern und Papier begrüßte sie. Der Geruch nach Tabak und angebranntem Essen stieg ihr in die Nase. »Wie ich
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