Schiff der tausend Träume
sehe, hat May dir seit ein paar Tagen nicht aufgewartet«, bemerkte sie lachend.
Ihr Vater zögerte. »Oh, du wirst es nicht wissen, oder? Die arme May ist im Krankenhaus.«
»Warum?«, fragte Celeste erschrocken. So war ihre Heimkehr nicht geplant. »Ich wusste nicht, dass sie krank ist.«
»May ist voll von heimlichem Kummer, fürchte ich. Wir hatten auch keine Ahnung. Selwyn war äußerst beunruhigt. Wie schön, dich wieder bei uns zu haben, nach all deinen … deinen Problemen. Du hast genau den richtigen Zeitpunkt gewählt. Es ist so viel passiert. Aber setz dich, ich fülle die Teekanne. Sie muss hier irgendwo sein.«
Celeste sprang auf. »Ich sehe schon, wir werden unsere Ärmel aufkrempeln und Ordnung bei dir schaffen müssen. Oh, Papa, du hast keine Ahnung, wie lange ich auf diese Rückkehr gewartet habe.« Sie hielt inne, denn sie sah, wie ihr Vater über den Rand seiner Halbmondbrille hinweg ihren Sohn beäugte.
»Er ist Bertie so ähnlich, nicht wahr?«, sagte er und schaute auf das in Silber gerahmte Bild von Bertram in seiner Uniform. »Ich kann noch immer nicht glauben, dass er nicht mehr zu uns nach Hause kommt. Ich bin froh, dass deine Mutter das nicht erleben musste … aber nun, wie wunderbar, euch beide zu sehen. Warte, bis Selwyn es hört. Ich muss euch jedoch warnen, Selwyn ist nicht mehr der, an den du dich erinnerst. Er war sehr krank, aber mit der Zeit wird er wieder genesen, so wie May.«
»Was
hat
May denn nun?«
»Habe ich das nicht erwähnt? Sie liegt im St. Matthew’s.«
»Im Irrenhaus?« Celeste war schockiert. »Wieso?«
»Sie ist nicht mehr sie selbst. Sie können ihr dort helfen.«
Celeste holte angesichts dieser schlechten Nachrichten noch einmal tief Luft und wusste, dass sie keine Minute zu früh heimgekehrt war. Hier wurde sie gebraucht und war willkommen. Endlich waren sie zu Hause.
61
May wurde wach und wusste zuerst nicht, wo sie war. Als sie versuchte, sich auf den Raum zu konzentrieren, verschwamm alles vor ihren Augen. Sie lag in einem Krankensaal mit hoher Decke, eisernen Bettgestellen an den Wänden und dem Geruch nach Desinfektionsmitteln in der Luft. Sie hatte das Gefühl, lange geschlafen zu haben, ihre Gliedmaßen waren steif und schwer, ihre Zunge geschwollen und ihr Mund trocken. Ihre Hände tasteten über das dünne Nachthemd, das hochgerutscht war und sie nur spärlich bedeckte. Ihr Kopf pochte, als sie versuchte, ihn vom Kissen zu heben. Was machte sie hier?
Panik durchfuhr ihren Körper, und sie sank zurück. Mir ist egal, wer ich bin, ich bin so müde, dachte sie. Ihr Kopf war luftig wie Baumwolle. Zunächst konnte sie sich nicht daran erinnern, wie sie hergekommen war, nichts außer Schlaf und Schweregefühl und ein paar flüchtige Eindrücke von einer langen Reise irgendwo im Hintergrund ihres benebelten Verstandes. Ihre Kehle fühlte sich rau und versengt an. Wo war sie?
Andere Frauen schlurften im Raum auf und ab und beäugten sie interessiert, doch sie entfernten sich rasch, als eine Schwester in steifer weißer Haube hereinmarschierte. Sobald sie sah, dass May sich bewegte, lächelte sie. »Ah, Mrs Smith, Sie sind wieder bei uns.«
»Wo bin ich?«
»Sie sind im St. Matthew’s Hospital, meine Liebe. Für eine lange Ruhepause und einen guten, langen Schlaf.«
May konnte ihre Worte zunächst nicht begreifen. Was machte sie in einem Irrenhaus, einem Heim für Geisteskranke? »Wo bin ich?«, fragte sie noch einmal.
»Ich habe es Ihnen gesagt … im Krankenhaus.«
»Aber wo?« Erinnerungsfetzen fügten sich zusammen. Sie war im Zug gewesen, und da waren Menschenmengen und das Meer. Mein Gott, das Meer!
»Wo ist Ella? Meine Tochter?« Sie richtete sich auf, um aus dem Bett zu kommen, doch der Raum drehte sich, und sie brach beinahe zusammen.
»Jetzt aber schnell wieder ins Bett, Mrs Smith. Ihre Tochter ist gut versorgt, kein Grund zur Besorgnis.«
»Wir waren an der Colwyn Bay … Ich weiß, dass wir mit dem Zug hingefahren sind. Bin ich in Wales?« Warum bewegten sich ihre Lippen nicht, wenn sie versuchte zu sprechen? Jedes Wort musste sie sich aus dem Mund zwingen.
»Klinge ich wie eine Waliserin? Sie sind in St. Matthews, Burntwood, seid über einer Woche jetzt. Sie dürfen sich nicht aufregen. Wir müssen Sie ruhigstellen. Ich möchte nicht, dass Sie die anderen Patientinnen beunruhigen. Ich werde Dr. Spence sagen, dass Sie wach sind. Er wird mit Ihnen sprechen wollen.«
Was habe ich getan, dass man mich hier eingeliefert hat?
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