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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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May suchte im Geist nach den Scherben zerbrochener Erinnerungen; die eiskalten Stiche, als sie auf das Wasser einschlug, und die Schreie. Was hatte sie getan? Wo war Ella? Sie hätte gern Angst empfunden, aber alles fühlte sich taub an.
    »Ich muss nach Hause. Ich sollte nicht hier sein. Ich habe eine Arbeitsstelle. Ich muss nach Hause und mich um alles kümmern.«
    »Wenn Sie sich nicht beruhigen, müssen wir Sie wieder in Schlaf versetzen«, beharrte die Schwester, beugte sich über May und zog das Bettzeug gerade. »Sie müssen ihren Verstand ausruhen und nicht aufrütteln. Sie waren völlig erledigt.«
    »Wann kann ich Ella sehen?«
    »Wir haben hier keine Kinder zu Besuch, aber Ihre Freunde waren da. Sie werden ihr Nachrichten von Ihnen übermitteln.«
    »Welche Freunde?«
    »Die Dame von der Kathedrale hat nach Ihnen gefragt. Sie ist zweimal mit Blumen vorbeigekommen. Sehen Sie, da drüben? Die prächtigen Gladiolen.« Die Schwester zeigte auf eine Glasvase voll bunter Stengel, die May nur undeutlich wahrnahm.
    Hatte die Frau des Schulrektors sie besucht? Wie nett von ihr. »Tut mir leid, wenn ich Umstände mache, aber ich muss nach Hause.«
    »Das ist nicht möglich, meine Liebe, noch nicht, erst muss es Ihnen bessergehen. Sie haben versucht, sich zu ertränken.«
    »Was habe ich?« May schrumpfte unter der Decke zusammen.
    »Sie sind ins Meer gelaufen und mussten zurückgehalten werden. Mit Ihren Eskapaden haben Sie die Leute erschreckt. Und das können wir doch nicht zulassen, oder?«
    Mays Gedanken überschlugen sich bei diesen Worten. Wenn sie sich doch nur erinnern könnte, aber alles war luftig und verschwommen, nur Bilder, die zerfielen, wenn sie versuchte, sie näher zu betrachten. Da war das Meer, ja, es glänzte wie ein silberner Spiegel und reflektierte ihre Schlechtigkeit. Sie hatte diesen Spiegel zertrümmern wollen. Er wühlte Dinge in ihr auf, die sie nie wieder hatte sehen wollen. Wie die Wellen sich über ihren Köpfen brachen … wie das Schiff unter die Oberfläche des grausamen Ozeans geglitten war. Sie spürte Tränen, die aber nicht kamen; ihre Augen waren trocken und wund.
Warum bin ich hier? Was habe ich falsch gemacht? Und wo ist die kleine Tochter des Kapitäns jetzt?
    Beschämt wandte sie sich von der Krankenschwester ab und hätte am liebsten wieder alles vergessen, wäre in den Herbstnebel verschwunden, der am frühen Morgen über Stowe Pool schwebte.
    In den darauffolgenden Tagen erschien ihr alles ringsum ausgebleicht und farblos. Sie fühlte sich in dem verschlissenen, gewaschenen Leinenzeug wie eine Fremde, die verwirrt und benommen umherwandelte. Das Essen im Speisesaal schmeckte fad, wie zu lange gekochtes Gemüse, und ihre Gliedmaßen waren unter dem Einfluss von Medikamenten schwer, während sie sich zum Hofgang schleppte und später durch die Flure zu den Tagesräumen.
    Durch die offenen Fenster strömte der Geruch nach Herbstfeuern, und wenn sie über das Grundstück des Krankenhauses schlurfte, knackten die Blätter unter ihren Stiefeln wie zerbrochenes Glas. Ihre Finger waren steif und geschwollen, während sie im Arbeitsraum saß und anderen zusah, die sich mit Korbflechten abplagten. Sie konnte sich nicht darauf konzentrieren, Spielzeug auszustopfen oder zu stricken. Eine Schwester versuchte sie zu überreden, etwas zu tun. »Ich kann nicht«, klagte sie. »Meine Finger funktionieren nicht.«
    Ihr war, als laufe hier alles in Zeitlupe ab. Sie beobachtete eine Frau, die mit Stecknadeln und Spulen Spitze herstellte. Über ihr Klöppelkissen gebeugt, verflocht sie langsam Fäden miteinander, ohne auf May zu achten, ganz konzentriert. Wenn sie sich doch auch in so etwas vertiefen könnte.
    Sie befingerte die aus Knochen geschnitzten und mit Baumwolle umwickelten Klöppel und sah sich als junge Frau voller Hoffnung auf die Zukunft, vernahm das Klacken von Maschinen, das Plappern von Mädchen, die ihren Tratsch mit Lippenbewegungen über dem Lärm austauschten. Sie war wieder in der Baumwollspinnerei, voller Leben und Liebe und Erwartung. Wer war das Mädchen? Wohin war sie gegangen? Wer war diese triste, kummerbeladene alte Frau?
    »Möchten Sie das probieren, May?«, fragte die Krankenschwester und führte sie an einen Platz, damit sie zusehen konnte, wie die Spitze von Nadel zu Nadel geflochten wurde. Die Baumwollfäden folgten dem Muster der Stecknadeln, die Spitze wuchs Stück für Stück, so zart, aber so langsam, und Mays Augen wurden von den Klöppeln beruhigt, vom

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