Schiff der tausend Träume
mir leid, dass es mir so schlechtging. Was musst du von mir denken?«
Celeste ergriff Mays Hand und erwiderte ihr Lächeln. »Denk nur an all die Briefe, die wir ausgetauscht haben, die Geheimnisse und die Freundlichkeit, die du mir erwiesen hast. Dir geht es wieder besser. Das kann ich dir vom Gesicht ablesen. Wir alle wollen dich wieder bei uns zu Hause haben. Du kannst mit Ella viele Spaziergänge unternehmen. Keine Sorge, ihr geht es prächtig. Sie und Roddy gewöhnen sich aneinander. Selwyn wird dich abholen. Er war sehr in Sorge um dich. Es ist gut, wieder Licht in deinen Augen zu sehen. Wir müssen so viel besprechen, um uns auf den neuesten Stand zu bringen, nicht wahr?«
Nach dem Besuch stieg Celeste in Selwyns Wagen und hielt an einer Landstraße an, um die Aussicht zu genießen. Er hatte versucht, ihr das Fahren beizubringen, aber sie war lieber allein, wenn er nicht mit ihr schimpfen konnte, weil sie die Gänge krachen ließ. Jetzt lernte sie mit den gewundenen Straßen umzugehen und machte Handzeichen. Auf einmal überkam sie das Gefühl, als liefen alle verschiedenen Stränge ihres Lebens jetzt endlich zusammen.
Ella würde so aufgeregt sein, dass ihre Mutter im Red House bleiben würde, bis es ihr besserging. Celeste brachte sie zu ihren Zimmern in Lombard Gardens, damit sie ihre Habseligkeiten packen und einlagern konnten. Die Zimmer sollten neu vermietet werden, und die Besitzer legten größten Wert darauf, dass die Wohnung geräumt wurde.
Worauf habe ich mich hier eingelassen?, fragte Celeste sich immer wieder seit ihrer Rückkehr nach Lichfield. Ein ganz neues Leben hatte sich entfaltet, das sie nie hätte planen können. Vater weigerte sich noch immer, ebenfalls ins Red House umzuziehen. Roddy ging in die Chorschule. Selwyn brauchte die feste Hand einer Frau, um Haus und Hof davor zu bewahren, in einem Nebel aus Rauch und Staub zu verschwinden, und Ella gehörte jetzt einfach zu ihrem Leben dazu. Celeste sorgte dafür, dass sie zusätzlichen Kunstunterricht im Kunstseminar in der Dam Street bekam. Ein Talent wie das ihre musste gefördert werden. Die Aussicht auf ein Stipendium an der Höheren Mädchenschule bestand auch. Sie hoffte, May würde ihre Pläne nicht allzu ehrgeizig finden.
Manchmal kam Celeste sich vor wie Kapitän Smith, der all diese provisorischen Familienmitglieder durch unruhige Gewässer steuerte – aber nicht in einen Eisberg unter dem Wasser, betete sie. Ella hatte darauf bestanden, sich seine Statue im Museumsgarten anzusehen. Es war wirklich sein Ebenbild.
»Er hat dir das Leben gerettet«, sagte sie, und Ella schaute sie schief an. »Deine Mutter und ich waren zusammen im Rettungsboot. Da haben wir uns kennengelernt, hat sie dir das nicht erzählt?«
Erneut wirkte Ella verwirrt. »Nein, mein Daddy ist auf einem Schiff nach Amerika ertrunken. Das weiß ich.« Sie hüpfte davon, nicht interessiert an diesen Neuigkeiten.
Also wusste Ella nichts. Celeste hütete sich, mehr zu sagen. Warum machte May ein solches Geheimnis um ihre Rettung? Was war falsch daran, dem Mädchen zu sagen, wie es dazu gekommen war, dass sie diese berühmte Katastrophe überlebt hatte? Aber stand es ihr zu, zu urteilen? Auch sie war Roddy gegenüber nicht ganz offen gewesen. Für sie war alles mit der Rückkehr nach Akron und zu Grover verknüpft.
Roddy hatte angefangen, Fragen nach seinem Vater zu stellen. Er hatte das Hochzeitsfoto vom Regal ihres Vaters genommen und mit Interesse betrachtet.
»Wir sollten ihm Bescheid geben, dass wir hier sind. Du zwingst mich, Lügen zu erzählen, ich hätte keinen Pa, aber ich habe einen … Er ist doch nicht tot, oder? Wenn du es nicht sagst, dann tu ich es, und Onkel Selwyn wird mir die Adresse geben.« In seinen Augen funkelten Zorn und eine Entschlossenheit, die sie nur allzu gut kannte.
Entsetzt und wütend stürmte sie in Selwyns Schuppen. »Was hast du Roddy über Grover erzählt?«
»Das ganze Mantel-und Degen-Zeug, der veränderte Familienname … der Junge ist verwirrt genug. Er hat ein Recht, über Grover Bescheid zu wissen. Ich verstehe einfach nicht, warum du ein bequemes Leben verlassen und ihn um die halbe Welt gezerrt hast, fort von allem, was er kennt«, fuhr Selwyn sie an.
»Oh, nein, das verstehst du natürlich nicht! Dann will ich dir sagen, dass dieses ›bequeme Leben‹ eine höllische Ehe war. Wenn deine Schwester zu spät kam, wurde sie geschlagen und herumgestoßen. Wenn deine Schwester schlafen wollte, wurde sie gezwungen,
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