Schiff der tausend Träume
sich Demütigungen zu unterwerfen, von denen man in der Zeitung liest. An vielen heißen Sommertagen war ich gezwungen, mit langen Ärmeln herumzulaufen, um die blauen Flecken an meinen Armen zu verbergen. Meinst du, mein Sohn sollte das sehen und zu der Ansicht gelangen, dass Männer ihre Frauen ebenso behandeln? Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe, also sag kein Wort mehr.«
Aufschluchzend eilte sie hinaus. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie wusste kaum, wo sie hinlief. Mit zitternden Knien lehnte sie an einem der Apfelbäume im Garten und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. So stand sie da, als Selwyn ihr nachkam. Er war kreidebleich vor Zorn. »Wenn ich Grover Parkes jemals in die Finger kriege …« Unbeholfen legte er die Hand auf Celestes Schulter. »Es tut mir entsetzlich leid, Schwesterherz, ich hatte ja keine Ahnung. Bitte, verzeih mir.«
Celeste sah ihn an. »Verstehst du jetzt, warum ich ihn nicht mehr in unserem Leben haben will? Es wäre unerträglich. Aber das alles muss unser Geheimnis bleiben … bitte.«
Nach ihrem Gefühlsausbruch zog sich ihr Bruder erneut in seine Schale zurück, er setzte sich in seinem Schuppen von ihnen ab und hämmerte an seinen Reparaturen herum, als ginge es um sein Leben. Celeste konnte Selwyns Veränderung kaum fassen. Die Narben der Verbrennungen in seinem Gesicht waren oberflächlich, doch die Kriegsnarben gingen tiefer, als sie es sich je vorstellen könnte. Aber dieser Streit reinigte die Luft, und es wurde nicht mehr darüber gesprochen, Roddy die Adresse zu geben, als Weihnachten vor der Tür stand.
Jetzt hatte sie zu tun, die bisherige Wohnung von May und Ella für den Umzug ins Red House auszuräumen. May hatte so wenig Besitz, dass Celeste sich schämte, wie viel Gerümpel ihrer Familie im Red House herumstand: die Schreibtische, Vitrinen, Stühle, Uhren, die Bilder, die Wäsche. Die Foresters waren große Hamsterer, die Smiths hatten alles verloren.
Ella half mit, sammelte alle Spielsachen in eine Kiste und packte die Sachen ihrer Mutter sauber in einen Koffer. Ganz unten in ihrer Kieferntruhe, unter den Wintersachen verborgen, lag eine Reisetasche, die nach Mottenkugeln roch.
Ella öffnete sie, und ein Stapel Babywäsche purzelte heraus, den Celeste sofort erkannte. »Schau, deine wunderschönen Babysachen!« In dem Häubchen zuunterst steckte ein Babyschuh mit einer winzigen Ledersohle, eingefasst mit einem feinen Spitzenbündchen. »Du warst so klein. Sieh nur, die Spitze an deinem Nachthemd, so eine schöne Borte. Deine Mutter muss sie als Andenken aufgehoben haben.«
Ella war kaum interessiert. »Die sehen für mich aus wie Kleider für alte Puppen.«
»Du musst sie mitnehmen und deiner Mutter zeigen. Sie sind etwas ganz Besonderes.« Allein durch die Berührung stiegen Erinnerungen in ihr auf: wie sie mit ihnen in die Wäscherei geeilt war und versucht hatte, May und ihr Kind warm und trocken zu halten und zu trösten. Wieso hatte May ihrer Tochter nichts über die
Titanic
erzählt?
»Ob sie sich dann wieder aufregt?« Ella schaute Celeste wachsam an. Sie hatte zu viel gesehen für ihr Alter, Dinge, die sie nicht verstand und nicht verstehen musste. »Am besten, wir legen sie weg.«
»Sie wird wieder gesund, aber wenn die Sachen dich stören, werde ich sie in Verwahrung nehmen. Deine Mutter muss deine Geschichte erklären, nicht ich. Ich habe schon zu viel gesagt.«
»Worüber?«
»Schau dich noch mal um, ob alles gepackt ist.« Celeste wusste, dass sie sich wieder auf dünnem Eis befand.
Als sie zum letzten Mal die Haustür schlossen, fiel ihr auf, dass Ella die Aussicht betrachtete.
»Mir gefällt dieses Haus, ich bin gern in der Nähe der Stadt«, sagte sie seufzend, aber da sie für ihr Alter sehr klug war, sah sie Celestes Miene und fügte eilig hinzu: »Aber Red House gefällt mir auch gut, und dass ich oben im Dachgeschoss mein eigenes Zimmer habe. Ich fahre gern mit dem Bus, und Onkel Selwyns Wagen knallt so laut, dass alle springen, wenn er explodiert.«
Mit dem dunklen Haar und den hinreißenden Augen würde die Kleine eine Schönheit werden, dachte Celeste. Sie kannte jetzt nur diese Stadt, wusste nichts über ihren Hintergrund, nichts über die
Titanic
. Höchste Zeit, dass die beiden Kinder erfuhren, was in jener Nacht passiert war, aber sie wollte May nicht wieder in Unruhe stürzen. May musste ihre Gründe haben, warum sie Ella nicht die Wahrheit sagte, so wie sie selbst zögerte, mit Roddy
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