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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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leuchteten elektrische Lichter. Die turmhohe Silhouette der
Titanic
ragte vor ihr auf, majestätisch und doch tödlich getroffen. Da erst vernahm sie Mr Hartleys Band, die Ragtime spielte; dann wehten traurigere Melodien zu ihnen herüber. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie in ihrem kleinen Boot gerettet war, während alle, die an Bord blieben, dem Untergang geweiht waren. Und dann erst, in einem glasklaren Moment der Erkenntnis, während sie das Stechen in ihrem Fußgelenk spürte und die klagenden Töne der geisterhaften Musik vernahm, begriff sie schließlich, dass dies kein Traum war, sondern der Beginn eines Albtraums.

9
    Joe presste Ellen an seine Brust und schob May zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Allmählich fanden sie ihren Weg durch das Gewirr von Gängen, durch eine unverschlossene Tür auf das Deck über ihnen. Menschen standen dort in Schlangen, und May hörte über ihnen irgendwo Musik. Auf diesem Deck gab es keine Rettungsboote. Ein Uniformierter öffnete eine andere Tür zur ersten Klasse und befahl den Frauen, sich an die große Treppe zum Oberdeck zu begeben, doch die Männer folgten ihnen, denn sie wollten nicht von ihren verängstigten Familien getrennt werden.
    Sie durchquerten ein schreckliches Märchenland; schwankende Lüster, üppige Teppiche, so weit das Auge reichte, aber kaum eine Menschenseele war zu sehen. Stewarts eilten hin und her und wiesen ihnen den Weg immer weiter nach oben. Joe machte große Augen. Das war eine andere Welt. Da standen Männer in Abendgarderobe, rauchten, achteten nicht auf die panische Flucht, auf die verzweifelten Rufe nach der richtigen Richtung; einige spielten Karten, als hätten sie alle Zeit der Welt, um ihr Spiel zu beenden, während die große, vergoldete Uhr auf dem Kaminsims zwei Uhr schlug.
    May spürte, wie sich das Schiff immer mehr neigte, nach und nach bedenklich schräg. Kostbares Glas ging ringsum zu Bruch, Tischlampen fielen um, Stühle rutschten über den Boden. Sie setzten ihren Weg durch den goldenen Salon und den Gesellschaftsraum fort. Über sich hörte sie Ragtimeklänge. Wo waren die anderen alle?
    »Das gefällt mir nicht, Joe!«
    »Geh einfach weiter, Schatz. Ellen ist bei mir sicher. Da oben ist bestimmt alles durchorganisiert.«
    Plötzlich spürten sie einen kalten Luftzug, und sie befanden sich auf dem Bootsdeck in einer Menge Menschen, die sich weinend aneinanderklammerten.
    »Wo sind die Rettungsboote?«, fragte Joe und schaute fassungslos zu den leeren Bootskränen auf.
    »Gute Frage, Kumpel«, erwiderte eine barsche schottische Stimme. »Die sind alle weg … nicht genug für unsereins.«
    Das Schiff neigte sich noch mehr. May klammerte sich an Joe und versuchte, nicht in Panik zu geraten.
    »Was machen wir jetzt?« Sie wollte gar nicht erst daran denken, was ihnen bevorstand. Die Vorstellung, im dunklen Wasser zu schwimmen, war entsetzlich, aber auf dem Schiff zu bleiben und unterzugehen …
    »An Backbord sind noch Boote«, schrie ein Passagier. »Kommt, mir nach!« Mühsam kämpften sie gegen die Schräglage an und versuchten, zusammenzubleiben. Als sie die andere Seite erreichten, fanden sie zwar keine Rettungsboote, aber ein paar Männer versuchten erfolglos, Faltboote abzulassen.
    »Geht wieder nach Steuerbord. Da sind Faltboote«, befahl ein Matrose und zeigte überrascht auf May und das kleine Kind. »Frauen und Kinder hätten schon längst weg sein sollen!«
    Joe zog May aus der Menge, aber sie blieb starr. »Das ist nicht gut … für uns ist kein Platz mehr da, oder?«, schrie sie und wurde von Panik gepackt. Wie lange noch, bis das Schiff kippen und sie alle ins eiskalte Wasser werfen würde?
    »Da müssen Boote sein. Die würden uns doch nicht der Gefahr aussetzen … nicht mit kleinen Kindern!«, rief Joe mit grimmigem Gesicht und drückte Ellen noch fester an sich. Er bemühte sich, aufrecht stehen zu bleiben, als das Schiff sich noch weiter neigte, und brüllte: »Wir werden springen, May. Ellen ist bei mir sicher. Ich habe sie in meinen Mantel gebunden. Wir müssen jetzt sofort hier weg, solange die Rettungsboote noch nah genug sind, um uns aufzunehmen!«
    »Ohne dich gehe ich nirgendwohin«, kreischte sie, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen beim Anblick des Meeres, das immer näher auf sie zukam.

10
    Regungslos, fassungslos beobachtete Celeste das sich entfaltende Drama, den Blick fest auf das angeschlagene Schiff gerichtet, das immer weiter auf seinen endgültigen Untergang zu

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