Schiff der tausend Träume
würde sie hinter dem Bett jemanden erkennen, den nur sie allein sah.
»Ich werde mein Bestes tun. Das verspreche ich dir. May, meine Liebe …«, war alles, was Celeste hervorbrachte. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander.
»Ich musste es noch jemandem sagen.« Mit einem tiefen Seufzer lehnte May sich zurück, atmete noch einmal röchelnd aus, und dann war es vorbei. Sie war von der Last ihres Geheimnisses erlöst. Und mit beunruhigender Gewissheit wurde Celeste klar, dass diese Last nun auf sie übergegangen war.
Sie fand Selwyn im Korridor am Fenster stehen. Benommen schüttelte sie den Kopf. »Sie ist von uns gegangen. Ich verstehe das alles nicht. Wie konnte ein einfacher Kratzer solch verheerenden Schaden in ihrem Körper anrichten?«
»Es war eine Blutvergiftung – einfach, aber tödlich. Im Krieg habe ich das oft gesehen. Die arme May, das hatte sie nicht verdient.« Selwyn seufzte. »Mein Gott, ich werde sie vermissen. Wir haben uns ständig über alles gestritten, aber sie war eine verdammt tapfere Frau. Sie hat sich alles mit eigener Kraft erarbeitet und mir das eine oder andere Mal eine Lektion erteilt. Mich sogar beschämt … Das Leben ist einfach nicht fair.«
Celeste sah, dass ihr Bruder den Tränen nahe war und um Fassung rang.
»Ich brauche einen Drink, etwas Starkes, und es ist mir egal, wer mich dabei sieht«, sagte sie.
»Das
George
?«
»Wo auch immer, bring mich einfach hier raus. Da denkt man, man kennt seine Freunde, und dann … Ach, Selwyn, wir haben ein Problem vor uns liegen, ein großes …«
»Immer mit der Ruhe, altes Mädchen. Ich weiß, dass es ein furchtbarer Schock ist, aber wir sollten erst einmal mit Ella sprechen. Sie ist bei Hazel. Wir müssen es ihr sagen.«
»Lass sie ruhig noch eine Weile dort bleiben. Außerdem solltest du vorher noch etwas wissen. Etwas, das keine Zeit der Welt mehr ändern wird.«
»Also dann ins
George
?«
»Ach, Selwyn, was soll nur werden?« Von Müdigkeit und Schock überwältigt, schlug Celeste die Hände vors Gesicht.
Oh, May, du hast den Zeitpunkt wirklich gut gewählt, um mich mit diesem schrecklichen Wissen zu belasten. Wie konntest du dieses Geheimnis nur all die Jahre mit dir herumschleppen? Was sollen wir jetzt nur tun?
Sie dachte an Ella, die bei Hazel und ihrer Mutter erst einmal gut aufgehoben war und noch nicht wusste, was vor ihr lag. Das arme Mädchen. Wie konnte May dieses Geheimnis so lange vor ihr verbergen? Celeste fühlte sich überwältigt, betrogen, als hätte sie ihre Freundin nie richtig gekannt. All diese Briefe und liebevollen Taten … Nun trug sie die Verantwortung für ein Waisenkind, das Gott weiß woher kam. Wie, um alles in der Welt, sollten sie nach all den Jahren herausfinden, wer Ella wirklich war?
87
Ella saß am Ufer des Kanals, starrte ins trübe Wasser und kämpfte mit der aufsteigenden Übelkeit. Wie konnte ihre Mutter sie einfach so verlassen? Sie hatte so friedlich ausgesehen in ihrem Sarg, mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, als wäre sie froh, allem entflohen zu sein. Nun lag sie in Netherstowe an der Heilquelle begraben, und Ella war ganz und gar allein.
Es war ein einfaches Begräbnis in St. Mary’s gewesen, gefolgt von einem Essen in einer Teestube. Hazel und ihre Familie waren gekommen, auch Archie McAdam sowie ein paar Damen aus dem Kolleg.
Ohne Mum in der Küche war das Red House nicht mehr dasselbe. Ella war froh, aufs College fliehen zu können, wo nicht andauernd jemand fragte, wie es ihr ging, und wo die Arbeit das Zittern ihrer Hände verbarg. Manchmal fühlte sie sich schwach und ausgelaugt, aber sie zwang sich, Notizen zu machen, zu lesen, zu lernen, alles Mögliche, um den Gedanken an die Rückkehr in das kalte leere Haus zu vertreiben.
Sie arbeitete gerade an einem kleinen Steinblock, bei dem sie sicher war, dass eine Gestalt darin verborgen lag und nur darauf lauerte, zum Vorschein zu kommen, doch sie schaffte es nicht, sie freizulegen. Ihr Lehrer sagte immer wieder, Kunst sei eine emotionale Reaktion auf die visuelle Welt, aber für sie waren das nur Worte. Ihre Gefühle waren ein einziges Wirrwarr, und ihre Hände griffen ständig daneben und vereitelten jeden Versuch, den Geist des Steins zu erfassen. Mehr als einmal warf sie ihr Werkzeug entnervt auf den Boden.
Ihre Skulptur lief Gefahr, wie eine der Statuen auf dem örtlichen Friedhof auszusehen, sentimental und gewöhnlich. Dabei wollte sie die Arbeit für die Ausstellung am Semesterende einreichen, eine
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