Schiff der tausend Träume
Gelegenheit, ihr Talent zur Schau zu stellen. Doch sie fühlte sich unsicher und konnte sich nicht entscheiden, was sie anfertigen sollte.
Beim Abendessen erkundigte Archie sich nach ihrem Tag, und da sie ohnehin nichts essen konnte, platzte sie mit ihrer Unzufriedenheit heraus. »Ich kann es nicht, ich kann nicht denken«, klagte sie. »Es ist hoffnungslos.«
»Dann denk nicht«, erwiderte Archie. »Vergiss es einfach. Tu etwas, wodurch du abschalten und dich entspannen kannst.« Er wollte ihr sicher nur helfen, aber wie sollte man sich entspannen, wenn man gerade seine Mutter verloren hatte? Alles, was ihr einfiel, war, durch die Stadt zu laufen und alle ihre gemeinsamen Orte aufzusuchen – eine Art Pilgerreise, um Trost zu finden und sich an alle Einzelheiten ihres gemeinsamen Lebens zu erinnern.
An einem Samstagmorgen spazierte sie also von Lombard Gardens, wo sie in dem alten Haus gewohnt hatten, zur Dam Street auf die Kathedrale zu, wie um Kanonikus Forester zu besuchen. Sie trat vor das Westportal der Kathedrale und betrachtete die Reihen der Statuen, die ihr mittlerweile so vertraut waren: die Reihen der Heiligen, alttestamentliche Propheten, Moses und die kleinen Statuen der Erzengel Gabriel, Michael, Uriel und Raphael.
Und im Gebäude selbst gab es auch so viele Gesichter zu studieren, vor allem Francis Chantreys Skulptur der schlafenden Kinder.
Sie setzte sich in eine Ecke des Kirchenschiffs, und auf einmal wurde ihr klar, dass sie ein ganz normales Gesicht aus ihrem Stein hauen würde, gealtert und mit Sorgenfalten. Sie dachte an das ernste und traurige Gesicht von Captain Smith, dessen Blick dem Meer galt, auch wenn sich seine Statue fern aller Wellen mitten in den Museum Gardens erhob. Wie oft hatte ihre Mutter mit Tränen in den Augen davorgestanden? Ella hatte nie erfahren, warum sein Abbild sie so sehr bewegte. Als sie einmal fragte, hatte May nur abgewinkt und gesagt: »Eines Tages … wenn du mal älter bist … dann werde ich es dir erklären.«
Jetzt würden sie nie mehr darüber sprechen können, und so viele Fragen mussten für immer unbeantwortet bleiben. Hier im Kirchenschiff, umgeben von all den Statuen, kam ihr der Gedanke, dass sie ein Gesicht meißeln könnte, das sie ihr ganzes Leben gekannt hatte. Was sollte sie Besseres in dem Stein finden als das Gesicht ihrer Mutter? Sie würde all ihre hochtrabenden Ideen verwerfen und das eine Gesicht erschaffen, das sie wirklich kannte.
Sie blickte zur gewölbten Decke empor. Dies war ein guter Platz zum Nachdenken. Wie oft hatte sie hier schon allein gesessen und darauf gewartet, dass Mum von ihrer Arbeit kam? Wie oft waren sie diese Bankreihen zusammen entlanggegangen?
Mr McAdam hatte recht. Man musste abwarten, bis die Dinge von selbst zum Vorschein kamen. Sie zu einem sprechen lassen, wenn sie bereit dazu waren. War es das, was ihr Lehrer mit der emotionalen Reaktion auf ein Thema gemeint hatte? Sie hatte keine Ahnung, was daraus werden würde, aber es war einen Versuch wert. Gleich am Montag früh wollte sie anfangen.
88
1927
Das Ende des Schuljahres nahte, die langen Sommerferien standen bevor, und Celeste saß im Garten vom Red House und genoss die späte Abendsonne. Selwyn war zu einem seiner regelmäßigen Treffen mit alten Kameraden ins Zentrum von Lichfield gefahren, und Ella und Hazel besuchten eine Tanzveranstaltung in Netherstowe. Celeste blickte zu Archie, dessen markantes Gesicht von den Strahlen der untergehenden Sonne in ein warmes Licht getaucht wurde. Er wirkte zufrieden und entspannt. Sie hatten gemeinsam einen saftigen Braten und danach ihre ersten eigenen Erdbeeren aus dem Garten gegessen.
»Hast du über das nachgedacht, was ich dir gestern Abend erzählt habe?«, fragte sie gespannt. Nach Monaten der Unentschlossenheit hatte sie Mays Geheimnis doch nicht mehr länger für sich behalten können. Er zog bedächtig an seiner Pfeife. »Ich muss herausfinden, ob es stimmt«, fuhr sie fort. »Aber wo soll ich anfangen?«
»Na, am Anfang«, erwiderte er lächelnd. »Fahr in den Ort, wo May zu Hause war, und frag nach, ob sich jemand an sie und ihren Mann erinnert. Es ist ja noch nicht so lange her, also müssten noch Unterlagen zu Geburt und Taufe existieren. Frag Bekannte, die noch in der Stadt leben.«
»Ich weiß nur, dass sie aus einem Waisenhaus in der Nähe von Bolton stammt, wo sie dann ihren Joe kennenlernte. Sie haben in Horrocks Baumwollspinnerei gearbeitet. Als sie von dort weggingen, haben sie Papiere
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