Schiff der tausend Träume
den Obstverkäufern am Straßenrand, mit dem Hupen der Automobile, die eilig weiterfahren wollten. New York war jetzt sein Zuhause.
Er stieg einen Pfad hinauf, von dem aus er das ganze Dorf überblicken konnte, von seinen Dächern bis hin zu den fernen Bergen. Hier hatte er Maria zum ersten Mal geküsst – es war so ewig lange her. Jetzt war es kühl, grau und neblig, nicht grün wie im Frühjahr, mit neuen Blättern und Blüten und dem Duft der Pinien. Alles hatte seine Zeit, dachte er seufzend. Maria würde für ihn immer der Frühling sein, und er befand sich im Herbst seines Lebens. Es war Zeit, wieder nach Hause zu fahren.
96
Mai 1928
Ella lehnte an der Reling der Kanalfähre und atmete genussvoll die kalte, frische Luft ein. Von der Birmingham New Street war sie nach London Waterloo gefahren, dann nach Dover, und von dort aus ging es nun nach Frankreich – endlich spürte sie ein Gefühl der Freiheit nach den langen Monaten voller Frustration und Zankerei mit den Foresters. Sie wusste, dass sie es den beiden schwergemacht hatte, aber was hatten sie erwartet, wenn sie ihr dieses Geheimnis so lange verschwiegen?
Rettung kam über die Frau des Erzdiakons, die Ella fragte, ob sie bereit sei, einer ihrer Freundinnen in Paris als Kindermädchen auszuhelfen.
Hazel war vor Neid fast geplatzt, als Ella ihren neuen Pass, die Fahrkarten und das umgetauschte Geld einpackte und sich dabei ganz erwachsen fühlte, so allein reisen zu dürfen … nun ja, fast. Celeste hatte darauf bestanden, dass sie sich einer Gruppe Kunststudenten aus Lichfield anschloss, die eine Museumstour unternahmen. Wenn sie wüsste, dass Ella diese Gruppe schon am Bahnhof Waterloo abgehängt hatte!
Dies war ihr Abenteuer, ihre Chance, ein Leben als Erwachsene zu führen, ohne von Celeste und Selwyn bevormundet zu werden. Es waren gemeine, ungerechte Gedanken, das wusste sie. Selwyn hatte ihr noch einen wunderschönen Lederkoffer gekauft, und Celeste war mit ihr nach Birmingham gefahren, um ein paar hübsche Sommerkleider zu erstehen. Archie hatte ihr Stadtpläne von Paris herausgesucht. »Du musst die Arbeiten von Rodin sehen. Ich bin sicher, du wirst begeistert sein.« Als ob sie das nicht schon wüsste!
Die beiden waren vor ihrer Abreise sehr nervös gewesen, aber sie würde ja bei der Familie eines Geistlichen wohnen, Reverend Mr Burgess, Pfarrer der anglikanischen Kirche St. George’s an der Rue Auguste Vaquerie. Dort sollte sie sich um die zwei kleinen Mädchen kümmern, denn bald würde noch ein Baby zur Welt kommen. Trotzdem hätte sie Zeit, zum Kunstunterricht zu gehen, und sie hatte schließlich keine Skrupel mehr gehabt, den
Titanic
-Wohlfahrtsfonds um ein Stipendium für ihre Ausbildung zu bitten.
Zuerst hatte sie sich geweigert, bis Archie ihr erklärte, dass sie, unabhängig von ihrer wahren Identität, durch das Unglück der
Titanic
einen großen Verlust erlitten habe, ebenso wie May. Der arme Selwyn hatte sich große Mühe gegeben, über die Schiffsgesellschaft White Star die Original-Passagierliste der
Titanic
aufzutreiben, aber Ella fühlte sich noch nicht imstande, sie anzusehen. Es würde bedeuten, Mays Lüge offiziell anzuerkennen, dadurch ihr Andenken zu beschmutzen und ihre jetzige Identität als falsch anzunehmen. Lieber blieb sie fürs Erste Ellen Smith. Sie wollte keine weiteren Komplikationen.
Über ihrem Kopf kreischten die Seemöwen, und Ellas Laune hob sich merklich, als sie in der Ferne die Küste ausmachte. Hier gäbe es keine schlechten Erinnerungen, keinen Kleinstadtklatsch. Sie war auf dem Weg in ein neues Land und zu neuen Menschen, die ihre traurige Geschichte nicht kannten, und sie konnte es kaum erwarten, dass dieses neue Leben begann.
Vierter Teil Neu geknüpfte Fäden
1928 – 1946
97
Post aus Paris, 1928
Meine Lieben,
ich bin gut angekommen. Der Pfarrer und seine Frau haben mich am Gare du Nord abgeholt, und bis jetzt sind Hermione und Rosalind kleine Engel. Ich kann kaum fassen, dass ich hier mitten im Herzen der Stadt lebe. Das Pfarrhaus liegt ganz zentral. Ich kann zu Fuß zum Triumphbogen gehen und die Champs Elysées hinunter zum Jardin des Tuileries. Bitte sagt Mrs Simmons herzlichen Dank, dass sie mich empfohlen hat.
Paris ist das beste Mittel gegen Depressionen. England kommt mir so weit weg vor. Hier habe ich alles, was ich mir nur wünschen kann, und mehr. Ich nehme die Mädchen oft in die Parks und Museen mit. Ich muss mich immer wieder selbst ermahnen, dass ich sie
Weitere Kostenlose Bücher