Schiff der tausend Träume
Kontinent heimisch fühlte, unter der warmen Sonne und im Geplapper der Sprachen. Sie gewöhnte sich daran, dass die Verkäufer in den Geschäften sie für eine Einheimische hielten und so schnell auf Französisch auf sie einredeten, dass sie nur lächeln und mit den Schultern zucken konnte.
Am Strand von Cannes hörte sie einmal eine Familie mit Kindern lachen und rufen, und eine Sekunde lang vermeinte sie genau zu verstehen, worum es ging, als würde eine tief vergrabene Erinnerung die Worte erkennen. Sofort drehte sie sich herum, um noch mehr zu hören, aber die Familie war schon weitergegangen und außer Hörweite. Für einen kurzen Moment war sie ganz beunruhigt, bis Hermione sie wieder aus ihren Gedanken riss, die die arme Roz schon zur Hälfte im Sand vergraben hatte.
Eines aber wusste sie: dies war nicht ihre letzte Auslandsreise gewesen. Sie würde auch nach Spanien reisen, Italien, in die Schweiz … wo immer sie Arbeit oder Unterricht fände. Wenn sie eine professionelle Künstlerin werden wollte, dann musste sie ihr Handwerk in harter Arbeit erlernen und ihren Blick schulen, um kritisch und aufmerksam zu sein. Was sie anfertigte, war noch recht amateurhaft und konventionell. Sie musste die Klassiker studieren, und das bedeutete weitere Reisepläne. Es war notwendig, ihre bisherige Identität als Mays Tochter beizubehalten, um weiterhin das Geld aus dem Fonds erhalten zu können. Die
Titanic
hatte so vielen Menschen den Tod gebracht und sollte für die bezahlen, die noch lebten – wer auch immer sie waren.
98
Juni 1932
Celeste betrachtete sich im langen Spiegel und war zufrieden.
Aquamarinblau passte gut zu ihrem Teint. Das Hochzeitskleid war im Schrägschnitt angefertigt, mit fließender Jacke und aufgestickten Perlen, und das Seidenhütchen saß fest mit Hutnadeln angesteckt auf ihrem gewellten Haar. Es war ein schlichtes Ensemble, perfekt für eine standesamtliche Trauung. Sie war froh, dass ihre Eltern diese beinahe Nacht-und-Nebel-Aktion nicht mehr miterleben mussten. Wie anders war es doch als das letzte Mal, mit der Pracht und Feierlichkeit der kirchlichen Zeremonie!
Grover hatte ihnen die Scheidung denkbar schwergemacht und erst nach vielen Jahren kleinlicher und lächerlicher Verhandlungen endlich die Papiere unterschrieben. Nachdem er seine Stellung wegen Streitereien innerhalb der Firma verloren hatte, war er von Akron nach Cleveland umgezogen. Dann hatten sie durch Roddy erfahren, dass sein Vater Arbeit und eine wohlhabende Witwe gefunden habe, ebenfalls geschieden, und plötzlich stand seiner Einwilligung in die Scheidung nichts mehr im Wege.
Celeste verletzte es, dass Roddy nicht zur Hochzeit kam, aber er sagte, er könne Will und ihre Firma Freight Express nicht allein lassen. Stattdessen hatte er ihnen Fahrkarten erster Klasse für eine Hochzeitsreise nach New York geschickt, und von dort aus würden sie ihn dann später besuchen. Celeste wurde das Gefühl nicht los, dass diese Geste seinen Schuldgefühlen entsprang, aber immerhin würden sie einander sehen.
Ella war gebräunt und entspannt aus Europa zurückgekehrt und erzählte von ihren Reisen in die Camargue, nach Avignon, Perpignan und bis nach Madrid. In Lichfield hielt sie sich dieser Tage nur selten auf. Der alte Schuppen diente ihr als Werkstatt, in der sie all ihre Ideen in die Tat umsetzte. Unruhiger Geist, der sie war, blieb sie nie allzu lange an einem Ort, bevor sie wieder auf Reisen ging.
Über die Vergangenheit sprachen sie fast nie. »Ich bin meine eigene Zukunft«, sagte sie. »Das ist alles, was zählt. Es ist mir lieber, alles andere in der Vergangenheit zu belassen, wo es hingehört.« Es war, als würde sich bei der bloßen Erwähnung der Suche nach ihren wahren Eltern jedes Mal eine Mauer schließen.
Heute nun war sie mit den letzten Vorbereitungen des Büfetts zum Hochzeitsempfang im Esszimmer beschäftigt. Das Zimmer roch nach reifem Brie, den Ella sorgsam in ihrem Gepäck über den Kanal transportiert hatte, denn sie war entschlossen, ihre englischen Freunde mit französischem Essen und gutem Wein bekanntzumachen.
Sie sah wunderschön aus in ihrem lavendelfarbenen Kleid aus Organza mit kleinen Puffärmelchen und einem Sträußchen mit rosa und cremefarbenen Rosen auf der Schulter. Wenn doch nur May hier sein könnte, um das Bild zu vervollständigen!, dachte Celeste und schluckte die Tränen hinunter, die sie zu überwältigen drohten. Sie hatte ihrer verstorbenen Freundin so viel zu verdanken!
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