Schiff der tausend Träume
neuste Ausgabe der Kinozeitschrift las. »Einen richtig großen, in London, mit Kenneth Moore.«
»Ach ja, tatsächlich?«, meinte Ella zerstreut. Sie arbeitete an ihrem neuesten Auftrag und wollte nicht gestört werden.
»Ja, wirklich, hier steht, dass es ein richtiges Epos wird, eine wahre Geschichte, die auf einem Buch basiert.«
»Das bezweifle ich«, meinte Ella. »Wer weiß schon, was da wirklich passiert ist in jeder Nacht?«
»Ach, sei nicht so pedantisch, du weißt doch, was sie meinen«, erwiderte Clare schnippisch und machte auf dem Absatz kehrt.
Seufzend fragte sich Ella, ob sie in dem Alter auch so empfindlich gewesen war. Clare war in den Ferien zu Besuch aus ihrem Internat bei York, und sie brauchten immer eine Weile, um sich wieder aneinander zu gewöhnen. Es war nicht leicht, ein Mädchen allein großzuziehen, schon gar nicht ein so lebhaftes und aufgewecktes wie Clare. Als Künstlerin brauchte sie die Möglichkeit, ohne Unterbrechung arbeiten zu können, und die Schulferien waren dann für beide eine chaotische Zeit. Clare wünschte sich Aufmerksamkeit und Unternehmungen ganz allein mit ihrer Mutter, aber Ella musste ihre Arbeit erledigen, ob nun Ferien waren oder nicht. Seit der ersten Ausstellung nach dem Krieg, auf der sie eine Skulpturenserie von Piloten und anderen Luftwaffensoldaten gezeigt hatte – traurige Gestalten mit hängenden Schultern einschließlich einer Büste von Anthony – sowie eine Reihe von Studien kriegsmüder Gesichter, hatte sie kaum mehr Zeit zum Luftholen bekommen: Denkmäler, Gedenktafeln und private Aufträge für Büsten aller Art von Kriegsopfern, Männern wie Frauen.
Manchmal war Ella so beschäftigt, dass sie kaum etwas anderes wahrnahm. Ihr ganzes Leben drehte sich um Clare, ihre Arbeit und die Foresters. Sie lebte immer noch mit Selwyn im Red House, was praktisch war, da sie sich die Ausgaben teilen konnten. Selwyn war älter und gebrechlicher geworden, seine Kriegsverletzungen schwächten ihn, und die Trinkerei schadete seiner Leber.
Ella hatte niemanden gefunden, der Anthony hätte ersetzen können. Er war ihre einzige wahre Liebe gewesen, und außerdem war sie zufrieden damit, all ihre Gefühle in ihre Arbeit fließen zu lassen. Natürlich hatte es Männer gegeben, die sie ausgeführt und ihr romantische Avancen gemacht hatten, aber Clare und ihre Arbeit gingen vor.
Sie hatte sich von neuem in ihre künstlerische Tätigkeit verliebt, die in den Kriegsjahren so gut wie brach gelegen hatte, da sie in der Zeit nur kopiert, repariert, gelehrt und mit Mühe und Not durchgehalten hatte. Jetzt war es, als würde all die angestaute Energie endlich frei. Die arme Clare fühlte sich vernachlässigt, also musste sie sich unbedingt Zeit nehmen, um mit ihr essen zu gehen.
Clare wusste um ihre Verbindung zur
Titanic
, hatte jedoch nie sonderliches Interesse an dieser Geschichte gezeigt. Nach Kriegsende hatte sie den Koffer mit den Babysachen im Wäscheschrank gefunden, ihrer Puppe zum Spielen hin und wieder das kleine Mützchen aufgesetzt, und als Ella eines Tages nach Hause kam, musste sie entdecken, dass Clare die Spitzenbordüre vom Nachthemd abgetrennt und an einen Unterrock für ihr Tenniskleid genäht hatte.
Aber Ella war deswegen nicht böse gewesen. Was hatte es für einen Sinn, die ganzen Sachen oben im Schrank allmählich vergilben zu lassen? Den Rest ihrer Babykleidung bewahrte sie allerdings zur Erinnerung weiterhin auf. Falls sie jemals umzöge, dachte sie, würde sie alles wegwerfen.
In den Sachen lag eine Geschichte verborgen, die dieser neue Film sicher nicht erzählen würde, dennoch war sie neugierig. Wie wollte man ein solches Ereignis zu einem Film verarbeiten? Die Grundlage war ein Roman von Walter Lord. Auf Englisch hieß er
A Night to Remember
– eine denkwürdige Nacht. Ella fand, dass es eine Nacht war, die man besser vergessen sollte.
Das erneute Interesse an dem Schiff hatte viele Zeitungsartikel über das Unglück zur Folge, und viele Überlebende erzählten ihre Geschichte. Ihre eigene Geschichte würde sicher niemand glauben, und außerdem konnte sie sich an überhaupt nichts erinnern.
Vielleicht war es so auch besser gewesen. Viele Menschen wollten den Krieg und all die erlittenen Verluste am liebsten vergessen. Aber Trauer, so hatte einmal jemand gesagt, war wie ein ständiger Untermieter, der vor deinem Kamin sitzt und die Wärme von dir fernhält. Man gewöhnt sich daran, einen zusätzlichen Pullover anzuziehen, um nicht mehr
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