Schiff der tausend Träume
zu frieren. Ella hatte die Frage ihrer wahren Herkunft, ihrer richtigen Eltern nie weiterverfolgt, obwohl sie es sich für die Zeit nach dem Krieg vorgenommen hatte. Ihre Arbeit und andere Dinge hielten sie davon ab. Aber für das, was einem wichtig ist, muss man Zeit finden, dachte sie seufzend. Doch irgendwie stand diese Suche nach mehr Informationen immer am unteren Ende ihrer Liste. Es war einfach zu spät.
Ihr Leben ging um das Hier und Heute, die Gegenwart und die Zukunft. Worin lag der Sinn, auf etwas zurückzublicken, das man doch nicht ändern konnte? Trotzdem bedauerte sie manchmal, dass sie es nicht einmal versucht hatte.
Celeste war gerade von einem Besuch bei Roddy aus den Staaten zurückgekehrt. Sie und Archie hatten ihre Enkelkinder besucht, da eines von ihnen Geburtstag gehabt hatte. Ella konnte sich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnen, dass Roddy Katholik geworden war, um eine italienisch-irische Frau zu heiraten, und dass er nun eine Imbisskette mit Schnellrestaurants an Highways besaß. Das Geschäft lief phantastisch, er hatte vom Krieg profitiert. Natürlich hatte er auch Ella und Clare zur pompösen Hochzeitsfeier eingeladen, aber die Überfahrt wäre zu zeitaufwendig gewesen – zumindest war das ihre Ausrede gewesen. Celeste und Archie hatten noch monatelang von der Feier geschwärmt, bei der an nichts gespart worden war. Patti hatte in ihrem aus Italien importierten, spitzenbesetzten Hochzeitskleid und dem Schleier ausgesehen wie Maureen O’Hara.
Es war kurios, wie das Leben sich entwickelt hatte. Hätte Roddy nicht diesen Priester kennengelernt und hätte dessen Familie ihm bei der Flucht nicht geholfen, hätte er Patti niemals getroffen.
Über die nächsten Monate vergaß Ella den Film, bis plötzlich eine ungewöhnliche Einladung von Mel Russell-Cooke eintraf, die anlässlich der Premiere von »Die letzte Nacht der Titanic« im
Odeon
am Leicester Square ein Festessen ausrichtete. Sie hoffe, Ella und ihre Familie werde zusammen mit Celeste zu dieser Premiere im Juli erscheinen, schrieb sie dazu, als Gäste der Filmgesellschaft.
»Du musst hingehen«, drängte Clare. »Du musst einfach. Du wirst die ganzen Stars kennenlernen!«
»Es ist nicht gerade meine Vorstellung einer angenehmen Abendunterhaltung, Menschen beim Ertrinken zuzusehen«, protestierte Ella zunächst, aber als sie mit Celeste darüber sprach, merkte sie, dass sie die Einladung nicht so einfach ausschlagen könnte.
»Wir waren dabei, meine Liebe. Es ist bestimmt interessant zu sehen, wie sie die Geschichte zusammengesponnen haben. Ich finde, wir sind es jenen, die nicht überlebt haben, schuldig, sie zu vertreten. Es ist das erste Mal seit dem Krieg, dass die breite Öffentlichkeit sich für die
Titanic
interessiert. Ich frage mich sogar, ob deine Geschichte in irgendeiner Weise erwähnt wird: dass Captain Smith ein Kind rettete und in eines der Boote hob. Man weiß ja nie, vielleicht erfährst du etwas Interessantes«, argumentierte sie.
Ella war nicht überzeugt. »Ich will meine Geschichte aber nicht in allen Zeitungen lesen. Ich geh da nicht hin.«
Doch Celeste gab nicht so schnell auf. »Wann bekommen du und ich schon mal eine Fahrt nach London geschenkt? Es wird alles bezahlt, die Reise, die Übernachtung, das Essen und die besten Plätze bei einer Premiere im West End! Denk darüber nach, das hört sich doch nach Spaß an!«
»Spaß? Wie kannst ausgerechnet du das sagen? Du warst doch dabei, du hast alles gesehen!« Ella war schockiert.
»Das ist jetzt alles Vergangenheit und schon lange vorbei. Nun ist es eine berühmte Katastrophe. Wir könnten mit anderen Überlebenden sprechen, Ella … aber allein mag ich auch nicht hingehen.«
Es war diese inständige Bitte, die Ella schließlich umstimmte. Sie schuldete Celeste so viel; ihr diese Reise zu verweigern, wäre unhöflich und undankbar.
»Also gut, ich komme mit – aber unter einer Bedingung: Ich gehe als Ella Smith, Ella Smith Harcourt, nicht als Ellen Gott-weiß-wer. Diese Geschichte muss um meiner Mutter willen in der Familie bleiben.«
»May wollte, dass du mehr darüber herausfindest. Es war ihr letzter Wunsch.« Wie um es zu bekräftigen, nahm Celeste Mays Foto in die Hand. »Der letzte Wunsch vor ihrem Tod. Deshalb hat sie es mir erzählt, da bin ich sicher.«
»Ich weiß, aber ich will nicht, dass die Geschichte neu geschrieben oder das Ganze aufgeblasen wird. Ich sehe schon die Schlagzeilen: ›Mutter britischer Künstlerin stiehlt
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