Schiff der tausend Träume
verzweifelt. Sie waren beide müde. Es war fast schon dunkel, und sie waren beinahe da. Ella raffte ihr letztes bisschen an Energie zusammen. Du wirst diesen Urlaub genießen, murmelte sie stumm, als der Eingang zur Villa Collina endlich vor ihnen lag.
Die Tage verstrichen, und es entwickelte sich eine Routine aus entspannten Morgen, Mittagessen in einem nahegelegenen Café, Mittagsschläfchen, Besichtigungen und langen Abendessen unter den Sternen, bei denen sie sich gegenseitig die Erlebnisse des Tages erzählten.
Sie fuhren nach Arezzo, um die Fresken des Piero della Francesca zu sehen, und bestaunten seinen Zyklus »Legende des wahren Kreuzes«. Sie amüsierten sich bei gemütlichen Picknicks am Fluss, und Roddy besuchte so viele seiner alten Verstecke, wie er konnte. Überall waren Zeichen von Vernachlässigung und Armut zu erkennen. Wenn sie Roddy erkannten, bereiteten die Familien ihm immer einen herzlichen Empfang. Sie waren älter geworden, von Sonne, Wind und dem Leben gezeichnet. Ein Höhepunkt war der Besuch der Bartolinis mit Kathleen, Patti, Frankie und Tina. Beim Wiedersehen flossen viele Tränen, und manch traurige Erinnerung lebte auf.
Patti ergriff resolut Roddys Hand. »Wir sind nicht hergekommen, um uns schlecht zu fühlen, Liebling. Wir sind gekommen, um zu feiern und diesen gütigen Menschen zu danken. Wir müssen euch alle in unsere Villa einladen, um mit uns zu essen und den Rest der Familie kennenzulernen. Wir werden Wagen schicken, die euch alle abholen.«
125
Interessiert beobachtete Clare die schwatzenden Spitzenklöpplerinnen, die – ihre speziellen, mit Nadeln besteckten Kissen vor sich – auf Hockern in den Türrahmen ihrer Häuser saßen. Die hohen Gebäude schützten die alten Damen vor der Sonne, die heiß auf Sansepolcro herabschien. Ella und Clare spazierten durch die alte Stadt, betrachteten Schaufenster und setzten sich dann auf die Piazza, um die Welt an sich vorbeiziehen zu lassen. Ella sah mittlerweile so dunkel gebräunt aus wie eine Einheimische und spürte, wie die Anspannung nach und nach von ihr abfiel, je mehr sie die Farben des Ortes auf sich wirken ließ: Ocker, gebranntes Siena, Terrakotta … Alles fügte sich wunderbar harmonisch zusammen, die Straßen, die Mauern, die Dächer, eine Wohltat für die Augen!
Hier auf der Piazza, die warme Sonne auf der Haut, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Jahren richtig unbeschwert. Dieser Ort wirkte auf sie wie Magie, und sie seufzte auf, als ihr einfiel, dass sie ihr Skizzenbuch im Auto gelassen hatte.
»Ah, signora, signorina!«
Ein Mann mit Sonnenbrille blieb vor ihrem Tisch stehen. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt in der Villa Collina?«
»Sì, grazie.«
Es war ihr Ritter im weißen Lancia, der sie zu den Toren der Villa begleitet hatte. Er stellte sich als Piero Marcellini vor, Notar und Anwalt in Sansepolcro.
»Es freut mich, dass es Ihnen gefällt. Es war das Haus meiner Familie.« Er lächelte. »Das ist es immer noch, aber jetzt wir … wie sagt man? Wir vermieten es im Sommer an Besucher.«
»Es ist ein wunderschönes Haus, Signor Marcellini.« Ella sah blinzelnd zu ihm auf.
»Bitte nennen Sie mich Piero, Signora Forester.« Er nahm die Sonnenbrille ab und lächelte.
»Ich bin Ella Harcourt, Mrs Harcourt, und das ist meine Tochter Clare.«
»Ah,
la bella Clara
, man hat schon von ihr gesprochen. Und Signor Arkot …?«
Ella schüttelte den Kopf und hob die Hand. »Im Krieg gefallen.« Sie wunderte sich, wie ruhig sie es sagen konnte, ohne zu zittern.
»La guerra, sì, mi dispiace.
Es tut mir leid, so viele traurige Geschichten. Wie lange werden Sie bleiben?«
»Nur noch eine Woche, dann fahren wir wieder zurück. Ich gehe dann zur Universität«, warf Clare dazwischen.
»Wird Ihre Mutter vielleicht mit mir essen gehen, bevor Sie abreisen?«
»Vielleicht«, sagte Ella verlegen und merkte, wie sie rot wurde.
»Dann werde ich anrufen.« Piero lächelte, verbeugte sich kurz und ging über den Platz davon.
»Mummy, du hast ein Rendezvous! Er mag dich!«
»Sei nicht albern. Die Südländer sind alle so.«
Clare lachte. »Warum solltest du kein Rendezvous haben? So alt bist du doch überhaupt nicht. Wie aufregend! Was wirst du anziehen?«
»Das reicht, wir gehen.« Peinlich berührt sprang Ella auf.
»Aber ich wollte doch noch das Geschäft mit den Spitzensachen finden«, protestierte Clare.
»Ein anderes Mal. Wir werden in der Villa erwartet, um für das große Familientreffen heute Abend zu
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