Schiff der tausend Träume
konnte Ella es kaum erwarten, sie loszuwerden.
Die bevorstehende gemeinsame Zeit würde etwas Besonders, Kostbares werden. Wenn doch nur Anthony bei ihnen sein könnte! Er schien so unendlich weit weg. Seinen Brief hatte sie Clare an ihrem vierzehnten Geburtstag gegeben, und er lag immer in ihrer Nachttischschublade, unter dem Foto von ihm in seiner Uniform.
»Ich sehe ihm nicht ähnlich, oder?«, hatte sie geseufzt und ihr eigenes Passbild betrachtet. »Wir beide sind so dunkel. Woher kommt das?«
»Ich weiß es nicht«, war die einzige Antwort, die Ella dazu eingefallen war. Sie wunderte sich manchmal selbst über ihren Mangel an Neugier, ihre wahre Identität zu ergründen. Das Motiv dafür war wohl eine Mischung aus Angst, düsterer Vorahnung und auch ein wenig Trägheit. Doch wovor fürchtete sie sich? Wenn sie nicht nachforschte, würde sie nicht enttäuscht sein, wenn sie nichts fand – aber hatte Clare inzwischen nicht auch ein Recht, es zu erfahren?
Vielleicht würde sie das Thema auf der Reise anschneiden. May würde es jetzt nicht mehr weh tun. Seit dem Film gab es immer mehr Informationen zu den Überlebenden der
Titanic
. Es wäre sicher nicht unmöglich, zumindest einen Teil der Wahrheit zu ergründen. Und wenn sie selbst zu viel Angst davor hatte, sollte sie es zumindest für ihre Tochter tun. Es ging auch um ihre Herkunftsgeschichte.
Die Büste von Anthony, die sie für Clare gefertigt hatte, zeigte ihn als ewig jungen Mann, während sie selbst alterte. Ihre schwarzen Locken waren von Grau durchzogen, aber ihre Augen glänzten noch immer schwarz, und ihre Gesichtszüge waren markant, wenn auch schon etwas weich ums Kinn.
Vielleicht wären ein paar neue Oberteile und Hosen tatsächlich nicht verkehrt. Aber Clare duldete keine Kompromisse und bestand darauf, dass Ella auch einen eng anliegenden Badeanzug kaufte sowie hübsche Unterwäsche, zwei Sommerkleider, Caprihosen und ein elegantes Abendkleid. »Du könntest wirklich toll aussehen, wenn du dir etwas mehr Mühe geben würdest.«
»Ich werde auf jeden Fall die Sonne meiden, sonst sieht meine Haut nach ein paar Wochen aus wie verschrumpeltes Leder. So war es jedenfalls letztes Mal.«
Wie eigenartig, wieder durch Europa zu reisen, diesmal mit Stil und Komfort in Zimmern kleiner Paläste – zumindest kam es ihr im Gegensatz zu den flohbesetzten Matratzen auf Dachböden von damals so vor. Lächelnd dachte Ella an sich selbst zurück, wie sie frei und ungebunden und mit nur ein paar Centimes in der Tasche über die französischen Märkte spaziert war. Die Jungen haben keine Angst, dachte sie, keinen Grund, an der Zukunft zu zweifeln. Auch sie war einmal umtriebig, gesellig und selbstsicher gewesen, aber jetzt nicht mehr. Sie beneidete ihre Tochter. Wie hübsch und frisch sie aussah! Sie hoffte, dass kein italienischer Hallodri ihr diesen Glanz nehmen würde. Der Krieg hatte einen Tribut von ihrer Generation verlangt – er sollte die nächste verschonen.
Zuerst war der Krieg aufregend und gefährlich gewesen, und Ella hatte es genossen, nur für den Moment zu leben, voller Leidenschaft und Risiko, doch Trauer und Verlust waren die unvermeidlichen Konsequenzen gewesen. Sie wollte Clare vor einem gebrochenen Herzen bewahren. Ella hatte sich damit abgefunden, dass die Romantik und der Schmerz der Liebe in ihrem Leben vorüber waren, aber Clare hatte alles noch vor sich.
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Italien, Juli 1959
Roddy war sprachlos beim Anblick der weißer Kreuze auf dem amerikanischen Soldatenfriedhof bei Florenz. Er schritt die Granittafeln mit den Namen der Vermissten ab, blickte die hohe Steinsäule hinauf und salutierte seinen Kameraden vor der Kapelle. Er dachte an all die Männer, die er gekannt hatte und die hier begraben lagen, und mit der Erinnerung erlebte er unweigerlich Rückblenden auf Gesichter, Gerüche und Explosionen.
Hier war alles so sauber, gepflegt und ruhig, so amerikanisch in Effizienz und Detail und dennoch sehr bewegend. Angelo war für die lange Reise nicht gesund genug gewesen, und so stand Kathleen ohne ihn am Grab ihres Sohnes und beweinte ihn, während Roddy den kleinen Frankie an der Hand hielt und betete, er möge niemals eine so schreckliche Erfahrung machen. Er war noch zu jung, um viel davon zu verstehen, aber die Atmosphäre berührte seine Kinder trotzdem, und sie spazierten neugierig, aber respektvoll um die Gräber.
Sie waren zunächst nach Rom gereist und hatten dort so viele Sehenswürdigkeiten aufgesucht, wie sie nur
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