Schiff der tausend Träume
bestätigen konnte, doch sie war außer Hörweite.
»Habt ihr das gehört? Kapitän Smith hat das Baby gerettet. Er hat einen Orden verdient«, sagte eine andere Frau und tätschelte die Locken der Kleinen.
May ging in jede Ecke des Decks und stellte das Kind zur Schau, aber niemand erhob Anspruch darauf. In diesem Augenblick wurde ihr allmählich klar, dass sie die kleine Waise behalten konnte. Sie war jünger als Ellen, hatte dunkle Augen und dunkle Haut, war aber offenbar gesund und unverletzt.
May suchte sich einen geschützten Platz, an dem sie das Kind aus den Decken wickelte und die trockene neue Babyausstattung prüfte, die ihr Passagiere der
Carpathia
geschenkt hatten. Sie kam nicht umhin, über die Qualität zu staunen. Sie war einer Prinzessin wert, hergestellt aus feinem Batist und Merinowolle, ein Jäckchen aus Spitze und ein hübsches Rüschenhäubchen, alles bereitwillig gestiftet. Ihre nette Helferin versprach, man werde die ursprünglichen Sachen des Kindes waschen und ihr geben.
Diskret öffnete sie die Windel, vor Angst zitternd, doch ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie sah, dass das Kind tatsächlich ein Mädchen war. Die Versuchung wurde immer größer. Warum sollte sie es nicht behalten? Ein kleines Kind brauchte eine Mutter, kein Waisenhaus voll anderer Kinder. Sie sollte es wissen, denn sie war selbst, Waise, die sie war, in einem solchen gewesen, später in kleineren Heimen außerhalb der Stadt großgezogen und als Dienstmagd eingestellt worden, ohne Verwandte, die sich um ihr Wohlergehen kümmerten, bis sie Joe kennenlernte. Wie würde Joe mit all dem umgehen? Plötzlich wurde ihr klar, dass er nicht da sein würde, um ihr zu helfen.
O Joe, was soll ich tun?
Sie war wie betäubt und weinte in ihre Decke, denn langsam wurde ihr bewusst, dass sie diese folgenschwere Entscheidung allein treffen musste.
Die eisige Taubheit der Nacht wich Schmerzen in allen Gliedern.
Sie wusste, als man das Kind für unversehrt erklärt hatte, hätte sie den Mund aufmachen und dem Schiffsarzt ihren Fehler eingestehen sollen. Dennoch brachte sie die Worte nicht über die Lippen, die sie von der Kleinen trennen würden. Später vielleicht, wenn sie anlegten, würde sie die Wahrheit sagen, doch im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass sie sich bereits entschieden hatte.
»Du bist mir übergeben worden, das Geschenk des Kapitäns. Du und ich, wir sind füreinander bestimmt. Sag Mum zu mir!«, flüsterte sie der Kleinen ins Ohr. Das Kind stupste bereits an Mays Brust, weil es trinken wollte, strampelte in den Decken und schaute hungrig zu ihr auf.
»Ella will gefüttert werden«, stellte ihre neue Freundin, Celeste Parkes, fest. Der Name fiel May plötzlich wieder ein.
»Ich habe keine Milch mehr«, murmelte May. Ihr eigenes Kind hatte sie vor Monaten abgestillt.
»Das überrascht mich nicht, allein der Schock wird Ihren Milchfluss gestoppt haben«, erwiderte Celeste. »Ich besorge eine Flasche für sie.«
Als Celeste außer Hörweite war, beugte May sich über das Kind. »Ich werde dich nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, nicht an Fremde geben. Ab jetzt werde ich für dich sorgen.«
Das Schiff fuhr an die Stelle zurück, an der die Katastrophe geschehen war. Man warnte die Passagiere, nicht an Deck zu bleiben, und es regnete, doch May weigerte sich noch immer hinunterzugehen. Sie sah weiße Gegenstände, die am Horizont auf dem Wasser schaukelten: Trümmer und Leichen. Sie wandte dem Meer den Rücken zu. Sich selbst zu quälen, hatte keinen Sinn. Die Erkenntnis traf sie mit unbarmherziger Härte und Endgültigkeit: Joe würde nie zurückkommen, ebenso wenig wie die kleine Ellen. Bei dem Gedanken an die beiden, da draußen auf Gedeih und Verderb den Wellen ausgesetzt, wurde ihr übel. Wie brachte sie es fertig, sie hinter sich zu lassen und wegzufahren?
Wie soll ich ohne euch leben? Was soll ich jetzt tun?
Mit einem Mal wusste sie, dass sie nicht den Mut hatte, allein nach Idaho weiterzureisen. Auch nach Bolton konnte sie nicht wieder zurück. Wie sollte sie die Veränderung in Ellas Größe und Hautfarbe erklären? Ella. Mrs Parkes hatte den Namen falsch verstanden, doch das kam May gut zupass. Ella Smith war nahe genug an dem Namen ihres leiblichen Kindes in der Geburtsurkunde, unterschied sich aber so weit, dass ihr nicht jedes Mal ein schmerzhafter Stich ins Herz fuhr, wenn sie ihn aussprach. Schon bei der Planung dieses schrecklichen Betrugs erwies sie sich als Meisterin.
Ihre
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