Schiff der tausend Träume
flüsterte May dem kleinen Bündel auf ihrem Schoß zu. »Das geht in Ordnung.«
Erst als es heller wurde und das Schiff am Horizont hoch aufragte, lockerte May den Griff um die Decken, in die Ellen sicher eingeschlagen war. Sie war so klein, dachte sie, als wäre sie im Wasser geschrumpft, und schlief noch immer. Sie wollte sie lieber nicht stören. Wenn Joe wieder zu ihnen stieß, hätte sie ihm einiges zu erzählen: wie man sie halbtot aus dem Wasser gezogen hatte und das Kind keine fünf Minuten später gerettet worden war. Sie war so müde und schwach, ihr ganzer Körper tat weh, und sie zitterte. Ein kurzer Blick auf ihre Tochter würde ihr wieder Leben einhauchen.
Als das Licht stärker wurde, zog sie die Decken fort, die das kleine Gesicht umrahmten, um nachzusehen, ob sie wach war.
Die Augen, die sie ansahen, waren kohlrabenschwarz. Augen, die May noch nie im Leben gesehen hatte. Ellens Augen waren blau. Sie schluckte den Schrei herunter, der sich in ihrer Kehle erhob, und zog die Decke wieder über das Gesicht, um die Entdeckung zu verhüllen. Ihr Herz hämmerte vor blankem Entsetzen. Das ist sie nicht, dachte sie. Es ist nicht mein Kind!
15
Niemand nahm Notiz von May; man war zu sehr damit beschäftigt, dem rettenden Schiff zuzujubeln. Sie schaute noch einmal nach, nur um die fremdem Augen zu sehen, die unter einem Spitzenhäubchen hervorlugten und sich in Mays Seele bohrten. Sie überprüfte das Gesicht des Kindes haargenau, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. So weit sie die Kleidung unter der dicken Schicht Decken erkennen konnte, sah sie auch anders aus als Ellens Sachen.
Zitternd lehnte May sich zurück, während der große Ozeandampfer auf sie zukam. Das war nicht so, wie es sein sollte: Der Herr gibt, und der Herr nimmt, aber nicht von mir. Hat er sich einen Scherz erlaubt mit diesem Geschenk aus dem Meer? War das die letzte mutige Tat des Kapitäns, mir das Kind einer Fremden in den Schoß zu legen? Wo ist meine Kleine? Ich will sie wiederhaben.
Sie warf einen starren Blick hinter sich auf alles, was fort war, auf das mörderische Meer, so ruhig und heimtückisch, dann auf das Gesicht, das mit großen Augen zu ihr aufschaute und fragte: Wer bist du? Dieses Kind war alles, was ihr blieb, dieses Kind des Meeres, jemandes Tochter oder Sohn.
Was soll ich machen? Oh, bitte, Gott, was fange ich jetzt an?
16
Celeste sah dem Schiff, das rasch auf sie zu fuhr, mit wachsender Aufregung entgegen. Sie seufzte erleichtert auf, denn ihre Qual war fast ausgestanden. Wenn sie noch hundert Jahre lebte, würde sie nie vergessen, was sie in dieser Nacht gesehen hatte. Ihre Rettung war glatt verlaufen, sie hatte jede Menge Zeit gehabt, warme Sachen über das Nachthemd zu ziehen und in ein Rettungsboot zu steigen, das gerade herabgelassen wurde. Sie waren früh von den Stewarts in der ersten Klasse gewarnt worden, man hatte ihnen Schwimmwesten ausgehändigt und sie rasch in Sicherheit gebracht. Sie hatte den Ausdruck in den Augen der Stewardess gesehen, die sie gezwungen hatte, ihren Befehlen zu folgen, ihr aufgesetztes Lächeln und das Zögern auf die Frage, was passiert sei.
Doch was sie gerade miterlebt hatte, war furchtbares, unaussprechliches Leid. Das größte Schiff der Welt war auf seiner Jungfernfahrt, und doch hatte eine Laune der Natur es zerbrochen. Hatte sie inmitten des Grauens wirklich gesehen, dass der Kapitän ein kleines Kind wieder in die Arme der Mutter legte? Sie hatte einen silbergrauen Bart und weißes Haar wahrgenommen – war er es wirklich? Der arme Mann, wer immer er sein mochte. Wie konnte sie ihn je vergessen, der die Arme von sich stieß, die ihn gerettet hätten? Und diese letzten Worte?
Gott sei Dank hatte sie Roddy nicht mitgenommen. Wie sehnte sie sich danach, ihn jetzt in den Armen zu halten, doch er war wohl zu Hause, gut zugedeckt in seinem Bett, und im Zimmer nebenan dürfte sein Kindermädchen Susan sein. Grover arbeitete bis spät in die Nacht in seinem Büro oder war in der Stadt unterwegs. Weiß der Himmel, mit wem, dachte sie grimmig.
Ihr Boot schwankte auf den hohen Wellen. Einen Moment lang überkam sie Panik, der Sicherheit so nah und doch so fern zu sein. Ob sie ihren kleinen Jungen je wiedersehen würde? Sie beobachtete die junge Frau neben sich, die ihr Kind an sich drückte, vor Kälte stöhnte und immer wieder den Namen ihres Mannes ausrief. Ihr Gesicht war von Schmerz gezeichnet.
Wenigstens hielt Celestes neuer Mantel sie beide warm, und die Stola
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