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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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Mann gesehen?« Die Ausländerinnen saßen dichtgedrängt in Gruppen zusammen und versuchten, ihre missliche Lage zu begreifen, während Dolmetscher mit den Armen ruderten, auf das Meer hinaus zeigten und den Kopf schüttelten. May hörte, wie die Frauen aufschrien, wenn ihnen klarwurde, dass sie jetzt allein auf der Welt waren und nur noch die Sachen hatten, die sie am Leib trugen.
    May lehnte sich in einen Liegestuhl zurück, in Decken eingemummt, und weigerte sich, unter Deck zu gehen. Sie würde draußen schlafen, wenn es sein musste. Wie konnte sie jemals wieder in den Bauch eines Schiffes hinuntergehen? Sie schlürfte eigenartigen, mit Alkohol versetzten Kaffee und wärmte ihre Hände an dem Becher. Schneidender Schmerz durchdrang ihre Finger, als sie wieder zum Leben erwachten.
    Die junge Frau in dem feinen Mantel war ihr nicht von der Seite gewichen, hatte sie wie eine Dienerin mit allem versorgt, bis es May peinlich wurde. Sie konnte sich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Ernestine oder so? Nein, egal … sie war zu müde, um nachzudenken.
    Sie hätte den Mund aufmachen, ihr die Wahrheit über das Kind erzählen sollen, aber sie konnte es nicht loslassen. Die panische Angst davor, nichts mehr in den Armen zu haben, überwältigte sie, als eine Krankenschwester kam, um das Kind mit unter Deck zu nehmen, damit es untersucht wurde. May hatte mitgehen wollen, war aber, von Angst gepackt, auf ihrem Deckstuhl zusammengesunken. Jetzt war das Kind wieder auf ihrem Schoß, sauber und trocken, und hatte trotz ihres Erlebnisses keinen Schaden davongetragen, hieß es. »Ihres« … Also ein kleines Mädchen, registrierte May. Die dunklen Augen bohrten sich mit Macht in ihr Herz, während sie lächelte, und die Kleine, zögerlich zunächst, mit einem breiten Grinsen antwortete. Das arme Würmchen würde nichts von seiner Qual wissen, sich an nichts erinnern, was vorher war. May hingegen würde ihr Leben lang an diese Nacht denken. Sie wusste, sie würde nie darüber hinwegkommen.
    Gestern noch war sie gemütlich mit Joe in ihrer Kabine auf dem Weg in ein neues Leben gewesen, und dann kamen die schrecklichen Augenblicke an Deck, bevor sie getrennt wurden. Waren Joe und Ellen beide tot? Wie grausam, sich nicht von ihnen verabschieden zu können. Keine zärtlichen Abschiedsworte, keine Küsse, nur ein hektischer Sprung ins Wasser und die verzweifelte Bitte zu überleben. Musste sie jetzt für sich selbst sorgen? Ihr Herz war taub vor Entsetzen. Die
Titanic
war tatsächlich ein Ungeheuer und hatte alles Kostbare verschlungen, das sie je besessen hatte. Joe und Ellen lagen da draußen erfroren im Wasser, und im Grunde ihres Herzens war ihr klar, dass sie die beiden nie wiedersehen würde. Sie hatte ihren einzigen wahren Freund verloren, ihren Seelenverwandten, und ihr geliebtes Kind, ihr eigen Fleisch und Blut. Verzweifelt klammerte sie sich an die Reling in der Hoffnung, ein weiteres Boot am Horizont zu sichten.
    Sie hörte, wie andere Frauen der Besatzung der
Carpathia
immer wieder ihre Geschichten erzählten, als wollten sie dem Drama der furchtbaren Nacht einen Sinn abgewinnen.
    Plötzlich vernahm sie laute Stimmen, als eine Mutter ein kleines Kind aus den Armen einer anderen Frau zerrte. »Das ist mein Kind! Sie haben meinen Philly! Geben Sie ihn mir!«
    Die andere Frau, eine Ausländerin, klammerte sich an das Kind. »
No! No! Mio bambino!
«
    Dann trat ein Offizier zwischen die beiden. »Was ist hier los?«
    »Die Frau hat meinen Sohn Phillip. Er wurde ohne mich in ein Rettungsboot geworfen. Sie hat meinen Sohn!«
    Eine Menschentraube bildete sich und betrachtete die beiden weinenden Frauen, die von der Besatzung rasch außer Sichtweite gebracht wurden. »Kapitän Rostron wird das vertraulich regeln«, sagte der Offizier, der das schreiende Kind auf den Arm nahm und über den Niedergang verschwand. Die Frauen heulten hinter ihm her.
    Die Szene hatte May in Unruhe versetzt, und sie wusste, dass sie dem Kind das Spitzenhäubchen absetzen und sich zwingen musste, herumzugehen, damit man das üppige dunkle Haar der Kleinen bewundern und jemand Anspruch auf sie erheben konnte.
    »Ist sie nicht goldig, und sie hat nichts abbekommen«, sagte ein Paar, das sich eng umschlungen hielt.
    »Der Kapitän persönlich hat sie gerettet und nach mir in das Boot gehoben, aber er ist nicht geblieben. Der Matrose hat es mir gesagt, nicht wahr?« Sie schaute sich nach ihrer neuen Freundin aus dem Rettungsboot um, die ihre Geschichte

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