Schiff der tausend Träume
sie ihr nichts zu bieten.
Aber wenn die Kleine nun in ein Waisenhaus gesteckt wurde? Selbst wenn sie sich die größte Mühe gaben, hatten Hausmütter doch unendlich viel zu tun und waren umgeben von bedürftigen Kindern. Nie war genügend Aufmerksamkeit für alle da. May konnte sich nur zu gut an das Drängen und Schieben erinnern, das Spielzeug aus zweiter Hand, die grauen Uniformen und festgesetzten Regeln. Sogar das Haar wurde kurz geschnitten, um Zeit zu sparen. Niemand sollte diese herrlichen schwarzen Locken abschneiden.
May holte tief Luft. Was geschehen war, war geschehen. Jetzt ließ es sich nicht mehr rückgängig machen.
20
Nach dem Gedenkgottesdienst drängten sich die Überlebenden in den Salon der ersten Klasse. May und Celeste standen schweigend bei den anderen unter Schock stehenden Passagieren und der Besatzung. Man tuschelte, einige Überlebende seien an Bord des Schiffes gestorben und würden am Nachmittag beigesetzt. Celeste, die bisher noch nichts erfahren hatte, begab sich zum Büro des Zahlmeisters, um nachzufragen, ob jemand etwas von Mrs Grant gehört habe. Sie erhielt eine gute Nachricht. Mrs Grant sei irgendwo in der Krankenstation des Schiffes und leide an Entkräftung. Celeste eilte zu ihr, doch die alte Dame war ruhiggestellt und schlief. Dann begab sie sich zur Wäscherei, holte Ellas trockene Kleidung ab und bekam ein helles Kleid von einer Passagierin der
Carpathia
. Es war aus weicher Wolle, hatte ein spitz zulaufendes Mieder und passte ihr wie angegossen. Sie tauschte es gegen ihre schwarze Kleidung aus, die gebügelt und mit einem Schwamm abgewischt wurde. Instinktiv spürte Celeste, dass die frisch verwitwete May lieber Trauerkleidung als helle Farben tragen würde, und sie war bereit, ihr das warme und trockene schwarze Kleid zu geben.
Sie nahm die Kindersachen und roch den frischen Duft sauberer Wäsche. Wie hatte die schlichte kleine May nur eine solche Schönheit hervorgebracht? Wie sehr sehnte Celeste sich nach einem weiteren Kind, doch Grover hielt eisern daran fest, ein Sohn und Erbe sei eine hinreichende, elegante Lösung.
Ihr Leben in Akron schien in weite Ferne gerückt. Sie dachte an die Zeit damals, als sie sich in London bei einer Abendgesellschaft ihres Großvaters kennengelernt hatten, eines Bischofs im Ruhestand, die er für episkopalische Besucher aus Amerika veranstaltet hatte. Grover war auf Geschäftsreise für die Diamond Rubber Company gewesen und in Begleitung eines Freundes gekommen, hatte ihr Herz mit Rosen und Geschenken im Sturm erobert, hatte ihr einen Ring an den Finger gesteckt, bevor sie auch nur blinzeln konnte, und sie auf das erste Schiff nach New York gesetzt. Das alles schien lange her.
Alle Ehepaare brauchen eine Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen, aber bei ihnen dauerte es länger als üblich. Ihre Welten lagen weit auseinander, doch Roddy war eine solche Freude. Sie musste ihnen telegraphieren, um sie wissen zu lassen, dass sie in Sicherheit war, aber wie sollte Grover verstehen, was sie gerade durchgemacht hatte? Die Schreie dieser ertrinkenden Seelen würden ein Leben lang in ihren Ohren widerhallen. Der Anblick des sinkenden Schiffes tauchte blitzartig vor ihren Augen auf, als würde es gerade geschehen. Wie sollte es nach allem wieder so werden wie zuvor?
Auf ihrem Weg durch den Speisesaal fiel Celeste eine Gruppe von Frauen auf, die in einer Runde auf dem Boden saßen, eingehüllt in Pelze und Schals mit Paisleymuster. Sie lauschten einer Frau, die auf sie einredete.
»Meine Damen, wir können hier nicht herumsitzen und nichts tun. Bevor wir dieses Schiff verlassen, müssen wir einen Ausschuss gründen und ein paar verbindliche Beschlüsse fassen. Diese Katastrophe wird die Welt erschüttern, und für das, was gestern Abend passiert ist, müssen Köpfe rollen. Hier haben wir all die armen Seelen ohne Hab und Gut, nicht einen Cent in ihren Taschen. Wer wird dafür sorgen, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt? Wie werden sie zurechtkommen, wenn wir in New York anlegen, wenn wir uns jetzt nicht an die Arbeit machen?«
»Aber Mrs Brown, die White Star Line ist verantwortlich für ihr Wohlergehen, nicht wir«, sagte eine andere Dame, die neben ihr stand.
Die stämmige Frau schüttelte den Kopf und hielt eine Hand hoch. »Ich weiß, was es heißt, kein Zehncentstück mein eigen zu nennen. Amerika kann Menschen reich oder bettelarm machen. Ich hatte Glück, mein Mann ist auf eine Goldgrube gestoßen, aber eines weiß ich: wer
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