Schiff der tausend Träume
Schreibtisch. Sie taumelte.
»Ungehorsam werde ich in diesem Haus nicht dulden«, zischte Grover. »Du übergehst meine Anweisungen, meinen Fahrer, meinen Zeitplan. Du weißt, was passiert, wenn du das machst.« Mit eiskaltem Blick aus seinen grauen Augen ragte er über ihr auf. Celeste versuchte sich aufzurichten.
»Ich bin beinahe ertrunken, und du erwartest von mir, dass ich mich zu einer Party anziehen soll? Grover, bitte …«
»Du solltest dankbar sein. Meine Mutter hat diese Abendgesellschaft schon seit Tagen vorbereitet. Die Crème der Gesellschaft von Akron wird deine Geschichte aus erster Hand hören wollen.«
Celeste legte eine Hand an ihre Schulter, die entsetzlich weh tat. Sie fühlte sich benommen und desorientiert. »Ich bin erschöpft. Mir ist nicht nach Feiern zumute.«
»Wonach dir ist, und was du willst, spielt hier keine Rolle«, knurrte Grover.
»Bitte, an einem anderen Abend«, flehte sie ihn an.
»Geh ins Schlafzimmer. Dir gehört eine Lektion erteilt, die du so schnell nicht vergessen wirst.«
Celeste sah das wütende Aufblitzen in seinen Augen und wusste, was als Nächstes kommen würde. »Oh, jetzt nicht, bitte. Siehst du denn nicht, dass es mir schlechtgeht? Um der Liebe Gottes willen, jetzt nicht.«
»Du bist meine Frau, und ich bestehe auf meinem Recht. Geh ins Schlafzimmer. Ich hätte gedacht, dass dir inzwischen klar ist, wer hier der Herr im Hause ist. Ich lasse mich doch durch eine ungehorsame Frau nicht bloßstellen.«
30
May blieb auf der
Celtic
in ihrer Kabine, um neugierigen Blicken zu entgehen. Sie wusste, dass die anderen Passagiere darauf brannten, ihr Fragen über ihr Erlebnis zu stellen und das Kind zu hätscheln. Für Ella war Spielzeug vorhanden; eine Passagierin der ersten Klasse schickte einen schönen Teddybären und eine in rosa Samt mit goldenen Spitzenbändern gekleidete Puppe. Die Leute meinten es gut, doch May war zu erschöpft, um es zu würdigen. Mindestens fünf weitere überlebende Frauen waren an Bord, einige mit Kindern, und sie hatte gesehen, dass sie viel Beachtung fanden und herumgereicht wurden, als wären sie berühmt. Sie mied ihre Gesellschaft, wo sie nur konnte. Sie sollten für Fotos posieren, aber May zog sich von Anfang an vor dem Wirbel und der Aufmerksamkeit zurück. Allmählich kam ihre Botschaft bei den Menschen an.
Man hatte sie in die zweite Klasse hochgestuft, und sie war sicher, dass Celeste etwas damit zu tun hatte. Sie hatte eine solche Freundin nicht verdient, die ihr das Leben gerettet hatte. Ihre paar Tage in New York würde sie nie vergessen, die Kutschfahrt durch den Central Park, Eiskrem mit Sodawasser, Einkäufe bei Macy’s, bei denen sie bemüht war, die Luxuswaren auf den Ladentischen und die eleganten Damen mit Wagenradhüten nicht anzugaffen, die in einem Restaurant Tee tranken und Ella anhimmelten. Das war nicht die Wirklichkeit. Nichts war real gewesen, seit sie vor fast zwei Wochen in See gestochen waren. War es wirklich erst so kurz her, seitdem sie in eine neue Welt gefahren war, die Geschäftigkeit, den Lärm und den Staub der Stadt erlebt hatte? Das war nichts für ihresgleichen. Sie war froh, wieder nach Hause zurückzukehren. Wenn auch nicht in ihr echtes Zuhause, so doch wenigstens in ihr Heimatland, wo alles viel vertrauter wäre.
Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie in einem seltsamen Traum steckte, und wartete darauf, aufzuwachen. In nur wenigen Tagen war sie von Bolton nach London gereist, von Southampton nach New York, und jetzt wieder zurück ins Ungewisse; tagelang hatte sie in geborgten Kleidern gelebt und ein Kind mit sich herumgetragen, das sie kaum kannte. Dann dämmerte ihr in den kurzen Stunden der Dunkelheit die Realität, der Schmerz traf sie wie ein Schlag, und ihr Verstand fühlte sich an, als wollte er explodieren. Sie brachte es gerade noch fertig, der Kleinen eine Flasche zu richten.
Ella nuckelte sorglos daran. Solange sie gefüttert und frisch gewickelt wurde, machte sie keine Umstände.
Ich habe jemandem das Kind weggenommen. Herr, vergib mir!
Gern hatte sie sich zu Anfang, nur um Trost zu finden, an dieses Kind geklammert, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie trug die Verantwortung für die Kleine. Auf Gedeih und Verderb.
»Ich kenne dich nicht«, flüsterte sie dem Kind ins Ohr. Ella schenkte ihr ein so gewinnendes Lächeln, dass May den Kopf schütteln musste. Kindliche Unschuld. »Aber wir haben jede Menge Zeit, uns kennenzulernen, Mädel.« Vor ihr lagen Tage, an
Weitere Kostenlose Bücher