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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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denen sie friedlich dasitzen, Kinderlieder singen und an Deck auf und ab gehen konnte, bevor sie sich den kommenden Jahren stellen mussten.
    Ella sah so anders aus als Ellen, zartgliedrig, mit langen, dünnen Fingern und dunkler Haut. Sie war Ausländerin, daran bestand kein Zweifel. Im Zwischendeck hatte es so viele Nationen gegeben, Familien, Frauen mit Kopftüchern, die unentwegt gequasselt hatten. Verstand diese Kleine auch nur ein Wort von dem, was sie sagte?
    Alles, was sie am Leib trugen, war neu, angefangen von ihrem schwarzen Mantel mit Samtbesatz, dem schicken Hut und der Handtasche, ihren Kalbslederstiefeln, bis hin zu ihrem Korsett und dem Unterhemd. Nur ihr sorgenvolles Gesicht war dasselbe, allerdings zerfurcht von Kummer, blass und gezeichnet.
    In ihrer Tasche steckte Celestes Empfehlungsschreiben an einen der Geistlichen der Kathedrale von Lichfield, Celestes Vater, Kanonikus Forester. Er würde ihr helfen, eine geeignete Anstellung zu finden, darauf hatte ihre Freundin bestanden. Was war ein Kanonikus? Die einzige Kanone, die sie kannte, stand im Park. Sie hatte auch keinen blassen Schimmer, wo Lichfield lag, nur dass es in der Nähe von Birmingham war, und eine Kathedrale hatte sie noch nie im Leben betreten.
    Jedes Mal, wenn die Schiffsmotoren bebten oder verstummten, kam Panik in ihr auf. Wenn es noch einmal passierte? Die Eisberge waren noch immer da draußen. Sie konnte es kaum ertragen, an Deck zu gehen und sich umzuschauen. So komfortabel die Kabine auch sein mochte, May fiel es schwer, darin zu schlafen.
    Wenn Ella gegen Morgen aufwachte und nach ihrer Milch schrie, zog May sie warm an und zwang sich, mit ihr an Deck auf und ab zu gehen und einen Blick hinaus auf das Meer zu werfen. Niemand sah sie außer der Besatzung, die mitfühlend lächelte und sie ihren Gedanken überließ. Man spürte, dass May nicht daran erinnert werden wollte, was ihnen zugestoßen war.
    Celeste hatte vor, ihr Erlebnis publik zu machen, um der Welt mitzuteilen, was passiert war, doch sie würde es nicht tun, solange sie lebte, und sie hatte ihre Freundin angefleht, dem Kanonikus nicht allzu viel von ihrer Geschichte zu erzählen; nur dass sie bei der Katastrophe zur Witwe geworden war.
    »Bitte«, hatte sie beharrt, »ich will nicht, dass wir bemitleidet werden oder dass man auf der Straße auf uns zeigt.« Das war die einzige Bedingung, die sie gestellt hatte, bevor sie das nette Hilfsangebot annahm. Anonymität. Die Chance, von vorn anzufangen. Celeste war nichts anderes übriggeblieben, als einverstanden zu sein.
    Am 25 . April glitt das Schiff unter einem düster-grauen Himmel in die Westansteuerung; der Teil des Atlantiks, der die Küste Englands ankündigte, kam näher, und bald würden sie Liverpool erreichen. Eine letzte Aufgabe beschloss May noch zu erledigen.
    Wenn das ein neuer Anfang für sie beide sein sollte, dann mussten alle Andenken an dieses schreckliche Erlebnis vernichtet werden: ihr vom Salzwasser steifes Nachthemd, die Kleidung des Kindes, alles, was sie als Passagiere der
Titanic
ausweisen konnte. Sie kramte ihre eigenen Sachen und die der Kleinen hervor, steckte sie in die Tasche ihres neuen Mantels und nahm sie mit an Deck. Als niemand hinsah, ließ sie ihre Kleider ins Wasser fallen. Zuerst flatterten sie in der Brise, bauschten sich auf und trieben dann wie aufgedunsene Körper im Wasser davon. Entsetzt über diese furchtbare Mahnung wandte sie sich ab.
    Dann betastete sie Ellas Kleid mit der schönen Spitzenbordüre, das Häubchen, den kleinen Schuh. Der andere war an dem Tag, an dem sie in New York am Kai angelandet waren, irgendwie verlorengegangen. Das komplizierte Muster der Spitze war ihr noch gar nicht aufgefallen. Es war ein Zierstreifen mit Tieren der Arche Noah, jeweils zwei Hunde, Pferde, Rehe und eine Taube mit gespreizten Flügeln. Eine sehr feine Arbeit. Als sie den Stoff berührte, wusste sie, dass diese Spitze mit Liebe und Stolz geklöppelt worden war.
    Sie beide hatten im Rettungsboot und dann auf der
Carpathia
eine sichere Arche gefunden. Noch immer waren sie auf Gedeih und Verderb den Wellen und dem Wasser ausgesetzt. May beugte sich über die Reling und bemerkte, dass das schäumende Auf und Ab des Meeres Muster bildete, die wie Spitze aussahen.
    Wie sollte sie mit ansehen, wenn diese wunderschönen, winzigen Kleider abdrifteten und versanken, wie es ihrer eigenen kleinen Tochter passiert sein musste? Sie schob alles wieder in ihre Tasche. Die Sachen waren nicht für

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