Schiff der tausend Träume
bekommen. Allerdings hatte sie eine Idee, die funktionieren könnte, wenn sie es ihm behutsam vortrug. Sie mussten Roddy mitnehmen. Er wurde sehr anhänglich, und Susan sagte, er nässe nachts wieder ein.
»Damit wollen wir Mr Parkes nicht behelligen. Er hat so viel im Kopf«, hatte Celeste gesagt. Warum hatte sie stets das Gefühl, Ausreden für ihn erfinden zu müssen? Sie wusste, dass er Roddy vielleicht bestrafte und damit alles nur noch schlimmer machte. Ein Ausflug nach New York würde ihnen allen guttun; Zeit, die sie als Familie zusammen verbringen würden, könnte Roddy ein bisschen mehr Sicherheit verleihen. Warum fühlte sie sich so hin und her gerissen zwischen ihrem Zuhause und ihrer Arbeit? Wenn sie May darüber schriebe, würde ihr vielleicht vieles klarer werden. Wenigstens auf dem Papier konnte sie ehrlicher mit sich selbst sein.
Ich glaube, unsere Briefe müssen sich wieder gekreuzt haben. Komisch, wie wir immer wieder zur selben Zeit schreiben. Ein Jahr ist vergangen, aber ich höre noch immer die Schreie verzweifelter Passagiere im Wasser. Ich wende viel Zeit auf, um dafür zu sorgen, dass diese Stimmen von der Titanic niemals untergehen oder auf taube Ohren treffen.
Wenn ich ehrlich bin, sind manche Sitzungen des Komitees der Überlebenden langweilig. Frauen können für ihre Sache ebenso kämpfen wie Männer, und es gibt ein paar laute Stimmen, die ihre Vorgehensweise durchsetzen wollen …
Sie schrieb weiter, verloren in ihren vielen Neuigkeiten, darum bemüht, sich nicht allzu wichtig zu machen.
Manchmal sitze ich im Nähkränzchen der Gemeinde und lausche dem Geplapper ringsum, bis ich schreien könnte. Dann presche ich vor mit allem, was ich in New York über das Wahlrecht für Frauen höre, und meine Schwiegermutter wirft mir entsetzte Blicke zu. »Wenn es stimmt, was man von diesen Suffragetten hört, dann wird Grover wohl nicht wollen, dass du dich mit ihnen einlässt.«
Ich habe versucht zu erklären, warum Männer es nicht schätzen, dass unsere besten Kräfte ebenso wichtig auf der Weltbühne sein können wie ihre. Ach, meine Liebe, das klingt wie ein Flugblatt. Ich bin hin und her gerissen zwischen meinen Pflichten als Mutter und Ehefrau und denen einer guten Bürgerin. Ich frage mich, was von der jungen Frau übriggeblieben ist, die ich einmal war, die so viele Träume hatte. Wenn ich drüben bei Ihnen wäre, würde ich mich dann an Bahngleise ketten und mit Mrs Pankhurst marschieren? Das hoffe ich doch.
Wie schrecklich, dass ich mich bei Ihnen beklage in diesem ganz besonderen Monat, in dem wir an die armen Seelen denken müssen, die nie wieder eine Stimme haben werden. Verzeihen Sie mir meine Gedankenlosigkeit. Ich freue mich doch auf Ihre Briefe, aber es scheint Wochen her zu sein, dass ich zuletzt von Ihnen gehört habe. Ich hoffe, Sie finden einen stillen Platz, an dem Sie um Ihren verstorbenen Mann trauern können. Lassen Sie nicht so viel Zeit vergehen, bis Sie wieder schreiben.
In Aufruhr und Gedenken,
Ihre Celeste
Sie suchte nach einer Briefmarke, fand aber keine in ihrer Schreibmappe. Grover hätte wohl nichts dagegen, wenn sie eine seiner Marken nähme. Sie musste ihm ja nicht sagen, dass sie für einen Brief an May war. Sie begab sich zu seinem Arbeitszimmer, blieb kurz zögernd davor stehen, denn ihr fiel das letzte Mal ein, als sie sich hineingewagt und Schläge dafür eingesteckt hatte.
Sie sah auf seiner silbernen Ablage auf dem Schreibtisch nach. Keine Briefmarke. Sie wagte nie, in seinen Schubladen zu suchen, doch die waren für gewöhnlich ohnehin abgeschlossen.
Als sie sich bückte, um das nachzuprüfen, bemerkte sie einen Umschlag mit einer englischen Briefmarke und vertrauter Handschrift im Papierkorb. Ein geöffneter Brief von May, gelesen und fortgeworfen. Im ersten Augenblick begann der Raum sich zu drehen, als sie begriff, dass es ein Brief war, den sie nie gesehen hatte und der laut Stempel erst vor wenigen Tagen eingetroffen sein musste. Natürlich hatte May ihre Freundin am ersten Jahrestag des Untergangs nicht vergessen.
Celeste sank auf Grovers Mahagonistuhl und las den Brief sorgfältig durch. Sie konnte kaum atmen, so sehr brannte die Wut in ihr. Am liebsten hätte sie vor Enttäuschung über seine Heimtücke aufgeschrien.
Darf ich denn nicht einmal eine Privatsphäre oder eigene Freunde haben? Wie kann er es wagen? Das war unerträglich. Schluchzend las sie den Brief noch einmal und steckte ihn dann genauso wieder in den Papierkorb,
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