Schiff der tausend Träume
wie sie ihn vorgefunden hatte. Wieder schäumte Wut in ihr hoch. Zu diesem Spiel gehören zwei, dachte sie, öffnete ihren eigenen Brief und fügte einen Nachsatz hinzu.
P.S. Ihr Brief ist gerade eingetroffen. Bitte, betrachten Sie meinen albernen Vorwurf als gegenstandslos, aber da Sie mir Ihre Hilfe anbieten, habe ich tatsächlich eine Anfrage, eine eigenartige zwar, die ich aber später erklären werde. Bitte, schicken Sie Ihre Briefe ab sofort an Mrs Parkes, c/o Postamt in Akron, nicht mehr hierher.
Etwas Besseres konnte sie spontan nicht tun. Wenn Grover meinte, ihre Freundschaft schlafe ein, würde er in seiner Wachsamkeit nachlassen. Er hatte keine Ahnung, was er gerade ausgelöst hatte. So schwach sie auch sein mochte, er hatte einen empfindlichen Nerv getroffen und sie in ihrer Entschlossenheit bestärkt. Niemand würde sie davon abhalten, nach Hause zu schreiben, wem sie wollte. Wenn das Krieg war, dann hatte sie das erste Scharmützel gewonnen. Aber sie hatte das Gefühl, dass noch schlimmere Schlachten bevorstanden, bis sie den Sieg davontragen würde.
May las Celestes eigenartigen Brief dreimal und versuchte herauszufinden, was sie eigentlich damit sagen wollte. Im Mittelteil ging es nur um Frauenstimmrecht und eine Frau namens Alice Paul, die in England in Hungerstreik getreten war und jetzt in den Vereinigten Staaten für die Sache der Suffragetten kämpfte.
Ich habe mich der Congressional Union for Women’s Suffrage angeschlossen. Ich muss etwas unternehmen, um den Frauen hier zu ihrem Recht zu verhelfen. Warum sollte die eine Hälfte der menschlichen Bevölkerung nicht mitbestimmen dürfen? Zwanzig Millionen Frauen wird hier das Wahlrecht abgesprochen. Alice sagt, jede unserer Bemühungen zählt, so wie in dem Kirchenlied »jedes an dem Plätzchen, wohin Gott es stellt«.
May las verwirrt weiter, besonders, als es um die Änderung der Anschrift ging.
Sie hatte Aktivistinnen der Suffragetten gesehen, die Flugblätter auf dem Marktplatz in Lichfield verteilten, sowie Bilder von ihnen als Demonstrantinnen vor dem Parlament in London.
»Grover glaubt, ich erledige Arbeit für das
Titanic
Survivors’ Committee, was in gewisser Weise auch stimmt. Ich muss etwas unternehmen …« Ihre Handschrift wirkte krakelig, als wäre Celeste in Eile gewesen. Was war da eigentlich los?
Dabei glaubte May durchaus an das Wahlrecht für Frauen. In der Baumwollspinnerei in Bolton hatten sie hitzige Debatten darüber geführt, und sie hatte sich schon vor Jahren der Union für allgemeines Wahlrecht angeschlossen. Als Mr Winston Churchill durch die Stadt gefahren war, hatte es einen Aufstand gegeben, und sie wusste, dass viele ihrer Mitarbeiterinnen in der Spinnerei noch immer im Norden aktiv waren. Joe glaubte an seine sozialistische Sache, aber alles war ein wenig durcheinandergeraten, zumal Mrs Pankhurst sich handgreiflich mit der Polizei auseinandergesetzt hatte. Seit ihrer Ankunft in Lichfield hatte May jedoch alles über sich hinwegstreifen lassen. Es schien so weit entfernt von ihrem jetzigen Leben.
Was würde Kanonikus Forester von seiner Tochter halten, die mit Spruchbändern durch die Lande zog? Ihr Mann musste sehr verständnisvoll sein, wenn er zuließ, dass sie sich derart in den Vordergrund stellte. Aber Frauen wie Celeste mussten nicht arbeiten, seufzte May. Sie konnten ihren Hobbys nachgehen und mussten sich um die Kosten keine Sorgen machen. Aber irgendetwas war im Gange, das spürte sie, und sie war beunruhigt. Celeste klang nicht wie sie selbst.
May las die Seiten über Celestes geschäftiges Leben noch einmal und schämte sich ihres eigenen ruhigen Daseins. Sie erledigte zu Hause ihre Pflichten, ihre Hausarbeit. Sie hatte sich um Ella zu kümmern, und sie nahm dankbar ihre Rente in Empfang. Still saß sie jeden Sonntag in der hinteren Bank der alten Gemeindekirche St. Chad’s und versuchte, ihren Kopf zu beruhigen, der sie auch weiterhin mit Träumen plagte. In ihren Briefen fiel es ihr schwer, eine Lüge zu leben und ihre wahren Gefühle zu Ella und zu dem zu verbergen, was sie getan hatte. Ella war inzwischen so sehr Teil ihrer selbst geworden, dass May sie niemals loslassen würde.
Komisch, wie sie beide ihre Sorgen andeuteten, sie aber nie direkt ansprachen. Ihre waren zu schrecklich, um jemals zu Papier gebracht zu werden.
Zu allem Übel hatte sie sich ein Wortgefecht mit Florrie Jessup geleistet, die May eines Nachmittags dabei ertappt hatte, wie sie aus der Provincial Bank
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