Schiff der tausend Träume
Rolle? Jetzt war alles gleichgültig, nachdem er seinen Lohn oder das, was davon noch übrig war, verloren hatte. Er musste seine Kleidung wechseln, bevor er Salvi und Anna gegenübertrat, die ihn zur Schnecke machen würden, beschämt vom Anblick dieses Penners, zu dem er geworden war.
Aber was das Auge nicht sieht … »Verpasse den Tag des Heiligen nicht, er wird dir immer aus der Patsche helfen.« Die Stimme seiner Mutter klang ihm im Ohr, aber würde der heilige Patrick seine Bitten erhören? Wozu sollte er sich um einen betrunkenen Italiener mehr kümmern?
Angelo war verwirrt, verkatert und verzweifelt. Er musste sich irgendwo waschen und diesen Tag ehren.
Lächelnd dachte er an seine Mamma, wie sie ihm mit dem Finger drohte. »Zeige mir deine Freunde, Angelo, und ich sage dir, wer du bist.«
Er starrte auf die hingestreckten Trunkenbolde, Raufbolde, Taschendiebe und sonstigen Abschaum.
Ich gehöre nicht zu denen, oder? Heilige Mutter Gottes, bin ich so weit gekommen? … Hilf mir! Warum, oh, warum, Maria, musstest du mich verlassen? Warum bist du an Bord dieses todgeweihten Schiffes gegangen?
Die Tränen wollten nicht versiegen, während er hinaus in die Frühlingssonne torkelte, die ihm in die Augen stach. Er hielt sich am Türrahmen fest, um sich zurechtzufinden, und mit einem unsicheren Schritt auf den Bürgersteig begab er sich in Richtung Glockenklang.
38
April 1913
Offensichtlich hatten sich ihre Briefe überschnitten. May saß im Park, um ihre Zeilen immer wieder zu lesen, bevor sie den Brief aufgab.
Liebe Celeste,
ich will mich kurz fassen. Ich kann kaum glauben, dass schon ein Jahr seit unserer ersten schicksalhaften Begegnung vergangen ist. Ich finde den Gedanken an die kommenden Tage schier unerträglich, in denen das Wort Titanic wieder in aller Munde und in allen Zeitungen sein wird. In England sollen große Gedenkgottesdienste stattfinden. Mir bricht das Herz, weil ich keinen Ort habe, an dem ich Blumen für Joe niederlegen kann, und wenn ich an das Familienleben denke, das uns so grausam entrissen wurde, bin ich immer noch traurig.
Ihr Vater hat stellvertretend für Sie Blumen auf die Ruhestätte Ihrer Mutter gestellt. Ihm fehlt ihre Gesellschaft, besonders an den Abenden. Das ist die Zeit, in der Ehepaare am Kamin essen und sich unterhalten, nicht wahr, eine Zeit der Nähe und des Trostes, die Witwen und Trauernden versagt ist.
Komisch, wie Sie mir beigebracht haben, auf Papier zu sprechen. Ich stelle mir gern vor, dass wir bei einer Tasse Tee zusammensitzen und plaudern. Deshalb fehlen mir die Mädels aus der Baumwollspinnerei. Die Frauen im Kolleg sind ein Klüngel, und eine von ihnen mag ich nicht, eine Florrie Jessup, die ihre Nase überall reinstecken muss, wie ein Frettchen. Ich halte mich von ihr fern, wo ich nur kann.
Ihr Vater hat uns am 15 . zum Tee eingeladen, wofür ich ihm dankbar bin. Nur er weiß wirklich, wie schrecklich das Datum für mich bleiben wird, solange ich lebe. Ich werde ein paar Éclairs mitbringen, weil er sie so gern mag.
Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, dass Sie mir diese Chance gegeben haben, ein vor neugierigen Blicken geschütztes Leben zu führen. Solange ich lebe, werde ich in Ihrer Schuld stehen, und wenn ich als Gegenleistung etwas für Sie tun kann, um Ihnen zu helfen, müssen Sie nur fragen. Wir kommen vielleicht aus anderen Welten, aber irgendwie habe ich in unseren Briefen das Gefühl, dass wir die besten Freundinnen werden. Ich hoffe nur, dass es Ihnen auch so geht.
Der Herr sei mit Ihnen,
May und Ella
»Ist nichts für mich in der Post, Minnie?« Celeste war verstört. Seit Wochen hatte sie nichts von May gehört, was ungewöhnlich war, besonders, da der schicksalhafte Jahrestag bevorstand. Zum x-ten Mal schaute sie auf dem Silbertablett in der Diele nach, auf dem die Briefe abgelegt wurden.
»Tut mir leid, Ma’am, habe nichts gesehen.« Minnie knickste und wich Celestes Blick aus, was so gar nicht ihre Art war.
Celeste seufzte. »Ich hatte auf einen Brief aus England gehofft.«
»Von Ihrer
Titanic
-Freundin?«, fragte Minnie. Die Dienerschaft wusste über ihren Briefwechsel mit May Bescheid und löste die Briefmarken für Roddys kleine Sammlung über Wasserdampf ab. »In der Stadt findet eine große Gedenkveranstaltung für alle ertrunkenen Seelen und eine Messe in der katholischen Kirche statt.«
Celeste hoffte, an den Gedenkveranstaltungen in New York teilnehmen zu können, doch es wurde schwieriger, Grovers Erlaubnis zu
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