Schiff der tausend Träume
Eleanor, die einen Kranz aus roten und weißen Rosen vor die Säule legte. Wie hatte sie ihr Kreuz in den vergangenen beiden Jahren doch mit Würde getragen. Was musste ihr jetzt durch den Kopf gehen?
Die Sonne blendete May. Ihnen war warm, eingezwängt wie sie waren, und Ella quengelte. »Enten … Enten füttern«, forderte sie. May hoffte, sich das Denkmal näher ansehen zu können, wenn die Menge sich zerstreut hatte. Sie schob Ella zurück in den Schatten am Minster Pool.
Die Prozession ging zurück, die Kadetten und Marinereservisten lösten ihre Reihen auf, Menschen schlurften an der Absperrung vorbei, um näher hinzuschauen und die Gedenktafel zu lesen.
»Enten … Enten füttern«, beharrte Ella.
Erst danach schob May den Kinderwagen zum Denkmal. Niemand hier hatte eine Ahnung von ihrer Verbindung zu diesem berühmten Mann, und als sie die Gedenktafel las, hätte sie weinen können. Nur sein Name, sein Rang und die Daten standen da mit einer nichtssagenden Inschrift:
ER HINTERLÄSST SEINEN LANDSLEUTEN
DIE ERINNERUNG AN EIN BEISPIELLOSES, GROSSES HERZ.
EIN TAPFERES LEBEN, EIN HELDENHAFTER TOD.
SEID BRITISCH.
Wie konnten sie es wagen, nicht zu erwähnen, dass er der Kapitän der
Titanic
war? Hier in dem Kinderwagen lag doch der lebende Beweis für seinen Heldenmut. Wenn Helen Smith seine leibliche Tochter war, dann war auch Ella auf eigenartige Weise die Tochter des Kapitäns, aus dem Meer geboren.
Wenn doch nur Celeste hier wäre. Sie würde verstehen. May schaute zu den ernsten Gesichtszügen der Statue auf, Trauer lag in den versonnenen Augen. Seufzend drehte sie sich um und schüttelte den Kopf. Kapitän Smith war nicht der Einzige, der in jener schicksalhaften Nacht sein Leben oder seinen Ruf verloren hatte.
Später, in der drückenden Hitze ihres Schlafzimmers, träumte sie wieder denselben Traum, sie schlug in dem schwarzen, endlosen Meer um sich, schrie auf, als das grausame, eisige Wasser, bewegt von Mond, Wind und Gezeiten, alles in die Tiefe zog, was sie liebte. Manchmal fuhr sie atemlos und schweißgebadet hoch und dachte erleichtert, dass alles nur ein Albtraum war, bis ihr Blick auf das hölzerne Kinderbett fiel, auf Ellas lockiges Haar, und sie wusste, dass es Realität war. Wer war dieses gestohlene Kind?
Musste sie den Trost, den Ella ihr schenkte, bis in alle Ewigkeit mit Geheimnistuerei und Schweigen bezahlen? Was hätte sie sonst tun sollen?
Du hast überlebt. Sie hat überlebt. Nur darum geht es jetzt. Habe ich das Richtige getan? O Herr, bitte, gib mir ein Zeichen, dass es richtig war
…
45
Liebste May,
vielen Dank für Ihre Beschreibung der Enthüllungszeremonie. Ich wünschte, ich hätte dabei sein können, aber ich war mit den Gedanken woanders. Ich habe etwas Schreckliches getan, bzw. es wird furchtbar, wenn mein Mann es je herausbekommen sollte. Sie wissen, wie viel mir die Arbeit für das Komitee der Überlebenden bedeutet. Nun, ich habe den Entschluss gefasst, ein paar kleinere Schmuckstücke zu verkaufen, die Grover mir im Laufe der Jahre geschenkt hat, Zeug, das ich nie trage. Ich nenne sie Blutgeschenke.
Ich bin heimlich nach Cleveland gefahren und habe einen guten Preis dafür erzielt. Es war so befreiend, echtes, eigenes Geld zu haben und in der Lage zu sein, unserer Sache eine ordentliche Spende zukommen zu lassen. Seit Monaten finde ich es immer schwieriger, in nutzloser Pracht zu leben. Diesen Schmuck zu verkaufen, fühlte sich gut an. Ich habe noch etwas Geld, das meine Mutter mir hinterlassen hat, das ich meinen »Notgroschen« nenne.
Ich kann kaum glauben, dass ich Ihnen das alles schreibe, aber sonst kann ich meinen Entschluss niemandem anvertrauen.
Wie Sie aus meinem Schweigen über meine Ehe geschlossen haben werden, ist sie nicht glücklich. Ich kann nicht mehr länger ertragen, was darin auszuhalten ist. Ich weiß, ich habe vor Gott versprochen, mein Gelübde nicht zu brechen, aber ich fürchte, es gibt keine Ehe mehr, die in Ehren zu halten wäre.
Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen dieses Wissen aufbürde. Ich hoffe, es erklärt, warum meine Briefe neuerdings voll hektischer Geschäftigkeit waren. Wenn ich zu tun habe, denke ich nicht. Bitte, seien Sie nicht schockiert.
Sie mussten für alles so schwer arbeiten, während ich hier bequem sitzen und nähen kann. Sie haben den Mann an Ihrer Seite verloren, während ich meinen gern loswürde. Wie eigenartig und ungerecht das Leben doch sein kann.
Machen Sie sich um uns keine Sorgen. Ich schmiede Pläne,
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