Schiff der tausend Träume
über die ich noch nichts sagen kann. Sie dürfen auf keinen Fall jemandem zu Hause über meine Schwierigkeiten berichten. Bitte, schicken Sie Ihren nächsten Brief ans Postamt. Ich werde Ihnen später telegraphieren. Wie Sie sich denken können, hat Grover unsere Korrespondenz nicht gutgeheißen, daher müssen wir ihn hintergehen.
Es kann sein, dass Sie eine Zeitlang nichts von mir hören. Es ist keine Nachlässigkeit meinerseits, sondern ich versuche, unsere traurige Situation mit eigenen Plänen zu verändern.
Verzweifelt,
Ihre Celeste mit Roddy
Celeste wartete, bis Grover aus dem Haus war, und suchte dann den Schlüssel zu seinem Schreibtisch, in dem ihre sämtlichen Dokumente aufbewahrt wurden. Sie wollte nur die Geburtsurkunden von sich und Roddy an sich nehmen. Wochenlang hatte sie ihm zugesetzt, es sei an der Zeit, dass sie mit Roddy und Susan einen Ausflug an die Ostküste machte, sein Boot fahren ließen und ein bisschen frische Luft tankten. Sie würden ein paar Tage in einem Hotel wohnen und auf dem Heimweg mit der Eisenbahn an die Großen Seen fahren. Sie hatte Roddy einen neuen Matrosenanzug gekauft, einen Strohhut für Susans Uniform und sich selbst ein paar hübsche Seidenkleider.
Zum ersten Mal seit Monaten fühlte sie sich freudig erregt. Susan müsste mitkommen, sonst könnte sie vielleicht Alarm schlagen. Sie war bis zu einem gewissen Grad vertrauenswürdig, aber sie hatte in Akron ihre eigene Familie, um die sie sich kümmern musste. Womöglich war es nicht klug, sie zu überreden, die Grenze nach Kanada zu überschreiten. Den New Yorker Zeitungen zufolge wurde die Lage in Europa nach der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo immer ernster. Man sprach von einem Krieg gegen Deutschland. Sie musste jetzt hinaus, bevor die Grenzen geschlossen wurden.
Von Margaret Brown und Alice Paul hatte sie gelernt, nicht passiv herumzusitzen und auf Rettung zu warten, sondern die Initiative zu ergreifen und ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Sie musste nach Norden in britisches Gebiet, dort ihr Geburtsrecht einfordern und Roddy mit über das Meer nehmen. Bis dorthin würde Grovers Arm niemals reichen.
Höchste Zeit, dass sie ihre eigene Familie wiedersah. Wenn ein Krieg ausbrach, dann würden ihre Brüder kämpfen wollen, und Vater wäre allein. Ihre Pflicht war es, zu ihnen zu fahren und ihren Sohn vorzustellen, bevor er vergaß, dass er selbst halb Engländer war.
Sie konnte ihre Aufregung nur schwer bei sich behalten. Doch dann kam Grover eines Abends nach Hause und verkündete, er werde im August eine Woche mitfahren, und Celeste verließ vor Enttäuschung der Mut. Ihre Pläne mussten noch um ein paar Tage verschoben werden. Er würde kommen, um nachzusehen, dass sie dort waren, wo sie vorgaben zu sein, oben an der Küste in Maine, so nah an der kanadischen Grenze, wie sie es wagte.
Sie hatte angedeutet, sie wolle gern den Opfern der
Titanic
, die in Halifax auf dem Fair-Lawn-Friedhof beigesetzt waren, die Ehre erweisen. Nach den letzten Schlägen war er noch immer nett zu ihr. Er musste erfahren haben, dass seine Mutter ihre Prellungen gesehen hatte.
Jetzt betete Celeste, dass alles glattlaufen möge. Sie nähte ein Geheimfach ins Futter des Schrankkoffers, in das sie ihre Dollars und Papiere steckte. Sie musste sich in seiner Gegenwart ruhig und gefügig geben, doch die Ungeheuerlichkeit dieser Täuschung ließ ihr Herz rasen. Der Gedanke an die Fahrt über das Meer, die dann anstünde, flößte ihr Angst ein. Es konnte doch unmöglich wieder so etwas passieren?
Sie käme im Sommer wieder heim nach England. Sie hatte in den Zeitungen nach Listen für Atlantiküberquerungen gesucht und festgestellt, dass Halifax in Nova Scotia sich gut als Hafen zur Einschiffung eignete. Von Halifax aus wäre es eine Flucht in letzter Minute, und sie würde jede Überfahrt über den Atlantik buchen, die zu bekommen war.
Nachts lag sie wach vor Entsetzen über das, was sie vorhatte. Die Flucht musste absolut sicher sein. Sie würde Susan unter irgendeinem Vorwand zurückschicken, damit die Ärmste nicht Zielscheibe von Grovers Zorn wurde, wenn er herausfand, dass sie ihn überlistet hatte.
Wenn sie entkam, würde es keine Beleidigungen und keine Gewalt mehr geben, und niemand konnte sie von ihrem Sohn trennen. Der Gedanke, ihre Familie wiederzusehen – auch May und Ella, mit der sie die alte Freundschaft wiederaufleben lassen würde –, verlieh ihr den Mut, ruhig und gefasst zu bleiben.
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