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Schiff der tausend Träume

Schiff der tausend Träume

Titel: Schiff der tausend Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Fleming
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betroffen. Man lässt jemanden, der in Schwierigkeiten steckt, nicht einfach stehen, überlegte May, besonders dann nicht, wenn es eine Freundin ist. Celeste war ihr eine gute Freundin gewesen, als sie so allein in der Welt stand wie noch nie. Jetzt musste sie ihre Freundschaft erwidern, koste es, was es wolle. Sie musste tun, was sie konnte, um zu helfen.

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    »Muss ich bleiben?«, fragte Roddy widerstrebend. Celeste wusste, dass er die Donnerstagnachmittage nicht mochte. Alle Jungen in seiner Klasse durften nach Hause laufen und Ball spielen oder in den Straßen Washingtons auf ihren Rädern fahren, er aber musste seinen besten Knickerbockeranzug anziehen, sich die Haare kämmen und ihren Gästen die Tür öffnen. Er hasste es, dort zu stehen, während ein Trupp Mädchen, die ihn alle um Längen überragten, nacheinander hereinstolzierte, um an der Tür zum Wohnzimmer angekündigt zu werden.
    »Guten Tag, Mrs Wood, wie geht es Ihnen heute? Guten Tag, Roderick.« Eine nach der anderen machte einen Knicks und hüpfte in hübschem Kleid und mit Ringellocken auf und ab, nach Rosenwasser und Lavendel duftend. Er half, Tee in Porzellantassen auf einem filigranen Tablett zu servieren und Sandwiches herumzureichen, dann den Kuchenständer weiterzugeben, auf dem delikate Kuchenstücke lagen, mit Zuckerguss überzogene Phantasiegebilde, die mit Kuchengabeln gegessen wurden.
    Alle Mädchen hatten ein Gedicht gelernt, das sie vortrugen, und Celeste half ihnen, wenn sie ins Stocken gerieten. Er musste applaudieren und zufrieden aussehen.
    »Warum müssen wir das tun?«, fragte er immer wieder.
    »Damit verdiene ich jetzt meinen Lebensunterhalt. Ich unterrichte die Mädchen, ihre Aussprache zu verfeinern und sich zu benehmen«, erwiderte sie. »Ich bringe Mädchen bei, eine Dame zu sein.«
    »Aber warum muss ich bleiben und zusehen?«
    »Weil du mir eine große Hilfe bist, Roddy. Das ist etwas, das wir zusammen machen können, und wenn die jungen Damen hier sind, muss ich noch immer ein Auge auf dich werfen.«
    »Aber das sollte Pa machen«, protestierte er.
    »Nein, Pa, Vater … Ich habe dir schon gesagt, dass wir nicht mehr mit Vater zusammenleben, und das wird auch noch lange so bleiben.«
    Tatsächlich konnte Roddy sich kaum noch an das Gesicht seines Vaters erinnern. Vor mehr als einem Jahr waren sie nun geflohen. Zunächst hatten sie zusammengepfercht mit anderen Frauen in einem Zimmer gewohnt, auf einem Feldbett geschlafen, bis Celeste ein kleines Mietshaus in der D Street hinter Capitol Hill in der Nähe des Eastern Market gefunden hatte. Roddy musste die öffentliche Schule in derselben Straße besuchen und kam mit blauen Flecken zurück, bis eine Freundin seiner Mutter ihm ein paar Handgriffe zur Selbstverteidigung beibrachte, die ihr geholfen hatten, wenn sie auf ihren Demonstrationen für das Frauenwahlrecht in die Enge getrieben worden war.
    Sie nahmen an Kundgebungen teil, doch Celeste sorgte dafür, dass sie hinten standen und sich unter die Menge mischten, wenn es laut wurde oder Fotografen zugegen waren, die Schnappschüsse machten. Roddy ging gern die Mall entlang und stand vor den Toren des Weißen Hauses, eingezwängt zwischen anderen Kindern. Während die Mütter die Köpfe zusammensteckten und diskutierten, konnten sie Ball spielen oder sich davonschleichen.
    Die Donnerstage aber waren ein Schreckgespenst für ihn, wenn seine Mutter sich etwas Geld verdiente und die Mädchen examinierte, damit sie gingen und sprachen wie kleine Damen, nicht wie die lärmenden, gackernden Hühner, welche die Treppe vor dem Haus hinuntersprangen, sobald nach den zwei Stunden Anstandsunterricht, die sie über sich ergehen lassen mussten, die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war.
    Über Kontakte in der St. John’s Episcopal Church war Celeste auf die Idee für diesen Unterricht gekommen. Manchmal besuchte der Präsident mit seiner Familie den Gottesdienst. Frisch verheiratete Offiziersfrauen kamen abends, um zu lernen, wie der Tisch mit Messern und Gabeln gedeckt wurde oder wie man Leute korrekt begrüßte. Andere wollten eine gewählte Aussprache lernen und Celestes Akzent nachahmen. Ihnen gefiel die akzentuierte, ruhige, wohlüberlegte Art, wie Engländer sprachen, und alle, die kamen, wollten als kultiviert angesehen werden.
    Hatte sie recht daran getan, Roddy eines normalen Familienlebens zu berauben? Sie waren jetzt arm. Sie zählte die Dollars ab und legte ein paar in die besondere Dose: »Für unsere

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