Schiff der tausend Träume
die anderen nach rechts!«, rief er. Protest machte sich in der Menge breit. »Ich habe nur zwei Hände. Gedulden Sie sich.«
»Mama, ich muss mal«, sagte Roddy und zog an ihrem Rock.
»Kannst du nicht warten?«, schmeichelte sie, da sie ihren Platz in der Schlange nicht verlieren wollte.
»Ich halte Ihnen den Platz frei«, bot ihr eine Frau mit freundlichem Gesicht an. »Eine Herrentoilette ist dort drüben.« Sie deutete auf die Tür.
Jetzt war es so warm, dass Celeste ihren Mantel auszog.
»Würden Sie den auch bitte halten?«, fragte sie, ohne den Rest ihres Gepäcks abgeben zu wollen.
Roddy steuerte das kleine Pissoir an, doch Celeste brachte ihn dazu, mit ihr zur Damentoilette zu gehen. Sie wagte nicht, ihn bei diesem Gedränge aus den Augen zu lassen.
Als sie wieder zu der Schlange kamen, suchte sie nach ihrem Platz, aber die Frau war fort, mitsamt Celestes Mantel. Panisch fragte sie herum, doch alle zuckten nur mit den Schultern.
»Ein paar Windhunde sind immer darunter, Madam, die nur auf eine Gelegenheit warten. Sie ist auf und davon, sobald Sie fort waren.«
Celeste war jetzt zu wütend und erschöpft, um zu protestieren, dass der Mann sie hätte aufhalten können. Also musste sie sich wieder hinten anstellen, obwohl es allmählich dunkel wurde.
»Der Nächste!«
»Zwei Fahrkarten nach Liverpool, bitte.«
»Tut mir leid, Madam, da ist jetzt bis Sonnabend nichts mehr zu machen. Kann ich Ihren Pass sehen?«
»Meinen was?«, fragte sie und reichte ihm stattdessen ihre und Roddys Geburtsurkunden. »Ich bin noch englische Staatsbürgerin.«
»Das mag ja sein, aber niemand wird Sie ohne Reisedokumente an Bord lassen.«
»Seit wann?«, fuhr sie den Mann verärgert und ängstlich an. »Ich bin auf der
Titanic
herübergekommen. Niemand hat mich damals nach so etwas gefragt.«
»Tut mir leid, Madam … neue Bestimmungen seit April. Alle Passagiere, die in ein anderes Land wollen, müssen ihre Ausweise vorzeigen.«
»Aber hier sind doch unsere Geburtsurkunden«, führte sie an.
»Tut mir leid, Madam, Sie werden die korrekten Papiere beantragen müssen … Der Nächste!«
Celeste hatte nicht vor, klein beizugeben. Sie war zu weit gekommen. »Aber wie lange wird das dauern?«
»Ihnen das zu sagen, steht mir nicht zu. Da herrscht Krieg, verstehen Sie.«
»Seit wann?« Zorn stieg in ihr auf und rötete ihre Wangen.
»Seit zehn Uhr heute Morgen, Madam. Haben Sie denn die Zeitungen nicht gesehen? Schauen Sie doch auf die Truppen. England und Deutschland befinden sich im Krieg, Kanada schickt Truppen, und die haben Vorrang vor Zivilpersonen. Treten Sie bitte zur Seite … der Nächste!«
Roddy spürte ihre Verzweiflung. »Gehen wir auf das große Schiff, Mama?«
»Nein, heute nicht«, krächzte sie. Celeste hätte sich am liebsten an den Kai gesetzt und vor Enttäuschung aufgeheult. Wohin jetzt? Die Zeit drängte. Sie musste zurück sein, bevor Susan den Brief zu Grover brachte. Sie mussten einen Nachtzug nach Süden finden. Was für eine dumme, ungebildete Närrin war sie doch gewesen, zu glauben, sie könnte so leicht entkommen.
Jetzt saßen sie fest, bis dieser Krieg vorbei war, oder bis sie einen echten Pass beschaffen konnte. Ihr ganzer Wagemut verflüchtigte sich im Nu. Was würde Grover tun, wenn sie nicht mit Susan zusammen ankämen? Ihr wurde ganz schwach. Panik legte sich wie dichter Nebel über sie und verdrängte alle anderen Gedanken. Bis sie wie ein Nebelhorn in ihrem Kopf eine vertraute Stimme vernahm, die sich durch die Finsternis bohrte.
Wofür zum Teufel gehen Sie zurück: Alles bleibt beim Alten, Schätzchen, noch mehr blaue Augen? Sie haben das Weite gesucht, Mädel. Verduften Sie einfach …
»Aber ich kann nicht«, hörte sie sich selbst aufschreien.
Wieso eigentlich nicht? Wer wird schon eine Rose Wood suchen, wenn die Welt auf dem Kopf steht? Laufen Sie weg, solange Sie können, und drehen Sie sich nicht um. Sie sind wie ich, eine der unsinkbaren Schwestern. Sie werden es schon schaffen, wenn Sie auf sich selbst gestellt sind
.
Celeste richtete sich auf und erwartete, Margaret Brown neben sich zu sehen, aber da war niemand. Ob sie es konnte? Einfach das Weite suchen, in einen Zug steigen und fahren, wohin sie wollte? Sie hatte die Dollars. Sie hatte ihren kostbarsten Schatz, der ihre Hand festhielt. Alles war möglich, wenn man es nur ganz und gar wollte und genug Mut aufbrachte.
Nein, den Sprung über den Ozean schaffte sie nicht, aber das sollte sie nicht davon
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