Schiff der tausend Träume
Mrs Smith, die sich ihrer Herkunft nicht ganz sicher sind, die vielleicht nicht einer legitimen Verbindung entstammen. Wir haben natürlich größtes Verständnis dafür, aber es ist nicht klug, wenn ein Kind von solchen Affären weiß.«
»Tut mir leid«, sprudelte es aus May heraus, »aber sie hat alles durcheinandergebracht. Ja, es stimmt, mein Mann ist auf See gestorben, Joseph Smith. Er war unterwegs nach Amerika, um ein Zuhause für uns einzurichten. Es war ein schrecklicher Unfall. Ella kennt die wahren Umstände nicht. Ich habe keinen Grund gesehen, ihr viel zu erzählen. Sie hat so viel Phantasie, dass sie es sich ausgedacht hat. Wir haben kein Grab, das wir besuchen können, wissen Sie. Tut mir leid, ich habe nicht nachgedacht. Wie kann sie so etwas nur sagen?«
»Ich verstehe natürlich, wie schwierig das sein muss«, sagte die Lehrerin. »Sie wissen, dass sie ein sehr helles Mädchen ist mit viel Phantasie, und im Zeichnen ist sie ihrem Alter weit voraus. Intelligente Mädchen neigen zu romantischen Tagträumen. Wir hoffen, sie wird zu gegebener Zeit ein kleineres Stipendium für die Highschool annehmen … nicht, dass wir sie verlieren wollen, aber ich bin mir Ihrer Lage bewusst.« Sie hüstelte. »War Ihr Mann künstlerisch begabt?«
»Er war geschickt mit den Händen«, bot May ihr an. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich werde dafür sorgen, dass es nicht wieder passiert. Dafür bekommt sie den Hintern versohlt.«
»Nein, bitte, Mrs Smith, das ist ein Missverständnis. Sie ist nur ein kleines Mädchen, und wie so viele heutzutage hat sie keinen Daddy, an den sie ihre Träume heften kann. Der Krieg hat so viele Familien auseinandergerissen. Sie ist zu jung, um zu begreifen, was sie gesagt hat. Es ist schwer, zu arbeiten und ein Kind allein großzuziehen. Sie macht Ihnen alle Ehre.«
May senkte den Kopf. »Ich möchte, dass Ella die Chancen bekommt, die Joe und ich nie hatten. Mein Mann und ich waren beide Waisen oben im Norden, wir planten, in Amerika ein neues Leben anzufangen. Sein Verlust war ein furchtbarer Schlag.« Sie spürte, dass ihr die Tränen kamen, und suchte schniefend nach ihrem Taschentuch. »Und jetzt das.«
»Vergessen Sie das Ganze. Ich bin so froh, dass Sie es mir gesagt haben. Es wird in diesen vier Wänden bleiben, das kann ich Ihnen versichern.«
»Ich mag nicht an diesen Verlust denken, erinnere mich nicht gern an die Vergangenheit. Was soll ich denn mit Ella machen?«
»Nichts, sagen Sie ihr einfach die Wahrheit und sorgen Sie dafür, dass sie weiß, wer ihr leiblicher Vater ist. Beschreiben Sie ihn so bildlich, dass sie ihn malen und sich vorstellen kann. Erzählen Sie ihr seine Geschichte, dann hat sie es nicht nötig, etwas vorzutäuschen.«
Zitternd verließ May das Büro. »Komm, du hast für heute genug angerichtet.« Wie konnte sie Ella böse sein? Aber sie war zornig auf sie, weil ihre Tochter alles ans Licht gezerrt, ihr wieder einmal ins Gedächtnis gerufen hatte, was sie verloren hatte. Und sie selbst war es doch, die alle Menschen in ihrer Umgebung belog. Viele Nächte lang lag sie wach im Bett und grübelte über Miss Parrys vernünftigen Rat.
Wie kann ich ihr die Wahrheit über ihren Vater sagen? Ich weiß doch nicht, wer er war oder ist … oder auch ihre Mutter. Ich habe ein Kind seinen Eltern weggenommen, ob tot oder lebendig. Wie kann ich noch mehr Lügen erzählen, um das zu verdecken? Was soll ich jetzt tun?
Liebe Celeste,
wo sind Sie jetzt? Sind Sie in Sicherheit? Ich konnte seit der Sache mit Mr Parkes nicht schlafen. Wie dumm von mir, Roddys Bild für alle sichtbar aufzustellen.
Ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist, aber meine Nerven liegen blank. Ella macht in der Schule Ärger und erzählt Flunkergeschichten, ihr Vater habe der Besatzung des Forschers Scott angehört. Sein Schiff sei in der Antarktis von Eis umschlossen worden, und ihr Vater sei auf das Eis gefallen. Wie kommt es, dass sie sich in ihrem Alter schon solche Sachen ausdenkt? Miss Parry sagte, vielleicht sehne sie sich nach ihrem Daddy, aber sie hat ihn doch nie gekannt. Ich habe Ella erzählt, was sie wissen muss, aber nichts über die Titanic . Dafür ist sie viel zu jung.
Manchmal fällt es mir schwer, mit ihren Fragen mitzuhalten. Ich versuche sie zu beschäftigen. Sonntagsmorgens geht sie zu Miss Francetti zum Tanzunterricht, und nach der Schule besucht sie einen Malkurs. Sie hat Sonntagsschule, und dann gibt es sogenannte Brownies,
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