Schiff der tausend Träume
Roddys Knöchel zu untersuchen. »Kannst du mit den Zehen wackeln?«
Roddy nickte jammernd. »Aber es tut noch immer weh.«
»Ich habe den Eindruck, dass nichts gebrochen ist, aber wir müssen es vom Schiffsarzt nachsehen lassen, nur um sicherzugehen«, fügte er hinzu und wandte sich dann mit einem Lächeln an Celeste. »Sollen wir ihn in die Mitte nehmen?« Er deutete auf seinen Stock. »Ziemlich störend, aber der hält das Schiff davon ab, Schlagseite nach Backbord zu bekommen.«
Celeste musste lächeln, als sie ihm auf die Beine half. »Der Krieg?« Sie schaute auf seinen Stock.
»Der Krieg.« Er zuckte mit den Schultern. »Übel zugerichtet, aber noch seetüchtig … Archie McAdam, weiland bei der Königlichen Marine. Und dieser junge Mann?«
»Das ist mein Sohn Roderick Wood. Bleiben Sie hier, ich suche einen Matrosen, der ihn hochhebt«, bot Celeste an und sah sich um, stellte aber fest, dass sie jetzt allein waren. Gemeinsam halfen sie Roddy auf die Beine, und er humpelte die Treppe hinunter, um sich das Fußgelenk verbinden zu lassen.
»Danke, Mr McAdam.« Celeste nahm den Mann genau in Augenschein. Er war Engländer, breitschultrig mit dem wettergegerbten, bärtigen Gesicht eines Seemanns. Sein Haar war an den Schläfen von silbernen Fäden durchzogen. Celeste hatte es eigentlich nicht eilig fortzulaufen, aber als Roddy frisch verbunden auftauchte und der Mann ihnen anbot, sie zum Tee einzuladen, schüttelte sie den Kopf. »Roderick sollte
Sie
zum Tee bitten«, protestierte sie.
»Nein, ich bestehe darauf. Es wird mir guttun, dem Stock eine Pause zu gönnen, und Sie beide können mir erzählen, was Sie auf diesem rostigen alten Kahn machen … Urlaub?«
»Ich fahre zu meinem Grandpa. Ich habe ihn noch nie gesehen, und Mom sagt …«, begann Roddy, doch Celeste schaltete sich rasch ein.
»Ich bin sicher, Mr McAdam will nicht unsere ganze Geschichte hören.« Sie lachte und sah, wie eifrig der Mann sie beide beobachtete. Roddy durfte mit Fremden nicht allzu vertraut werden.
»Doch, das möchte ich, und es ist Zeit für einen Nachmittagstee«, beharrte McAdam. »Ich verhungere, Sie nicht? Wissen Sie, ich habe mich gerade nur umgeschaut und mir beim Auslaufen gedacht, dass alle hier an Bord auf Reisen sind zu Vertrautem oder Unbekanntem, und alle Passagiere haben eine Geschichte zu erzählen. Und zack, schon stehe ich auf dem Schiffsboden, und die Geschichten fangen an. Wenn ich einen Tisch für drei Personen gefunden habe, Teegebäck bestellt, Süßigkeiten, was du magst, junger Mann, dann werde ich erzählen, warum ich hier bin. Ich wette, du hast nicht gedacht, dass ich den Atlantik überquere, nur um wieder zur Schule zu gehen?«
»Erwachsene gehen nicht zur Schule, oder?« Roddy schaute neugierig auf.
»Wir sagen Universität dazu, aber auch das ist eine Schule.«
»Ich muss in England eine neue Schule besuchen. Meine alte war in Washington.«
»Na bitte, du hast doch schon eine Geschichte zu erzählen. Komm, wir beiden alten Hinkebeine werden zusammen die Treppe hinaufgehen.«
Mr McAdam nahm Roddy an die Hand und ging. Sie ließen Celeste stehen, die ihnen nachschaute.
»Jeder hat eine Geschichte, in der Tat. Nun, Mr McAdam, Sie werden meine nicht zu hören bekommen«, murmelte sie und blieb den beiden auf den Fersen, nicht sicher, ob ihr die plötzliche Begegnung mit diesem Engländer, der ihren Sohn bezauberte wie der Rattenfänger von Hameln, gefiel, oder ob sie deswegen Angst haben sollte.
Roddy wurde später in seine Unterkunft verbannt, um seinen geschwollenen Fuß hochzulegen. Er hätte sich gelangweilt, aber Mr McAdam schaute mehrmals vorbei, brachte ihm Pfefferminzbonbons vorbei, ein Damespiel und ein paar Zeitschriften
Boy’s Own Papers
, in denen Schiffe abgebildet waren. Er lieh Roddy sogar ein Buch, das er seinem Neffen gekauft hatte.
Irgendwie trafen sie sich in den folgenden Tagen auch im Speisesaal, und als das Orchester aufspielte, ließ sich Celeste zögernd zu einem Tanz überreden, doch Mr McAdam, der Mühe mit seinem Bein hatte, war froh, sich wieder setzen zu können. Er hatte im Urlaub Freunde in New York besucht und die Gelegenheit genutzt, einen Spezialchirurgen aufzusuchen, der ihm helfen sollte, sein Bein wieder beweglicher zu machen. Er sagte, er sei begeistert von Tennis, Rugby und Kricket und sammle Zigarettenbilder und Briefmarken von seinen Reisen. Schließlich versprach er Roddy sogar, ihm das Schachspiel beizubringen. Man konnte sich gut mit ihm
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