Schiffsdiebe
hätte nicht zurückkommen müssen, und sie hätte mir nicht helfen müssen, einen Stahlträger hochzuheben, der für mich allein zu schwer war. Andere haben sie gedrängt, es bleiben zu lassen. Es war tollkühn. Und schließlich bin ich nur ein halber Mensch.« Tool sah Nita gelassen an. » Dein Vater befehligt ganze Flotten. Und bestimmt auch Tausende von Halbmenschen. Aber würde er sein Leben riskieren, um einen davon zu retten?«
Nita sah ihn wütend an, blieb jedoch die Antwort schuldig. Lange Zeit herrschte Schweigen. Schließlich versuchten sie alle zu schlafen, so gut das unter den Umständen möglich war.
Die große untergegangene Stadt New Orleans tauchte nicht plötzlich vor ihnen auf, sondern nach und nach: die durchhängenden Dächer der Hütten, die von Nayanbäumen und Zypressen aufgerissen worden waren; wegbrechende Beton- und Asphaltstraßen, von Kratern durchzogen; alte und verlassene, von Kudzuranken überwucherte Gebäude, die im Schatten hoch aufragender Sumpfbäume verfielen.
Der Zug fuhr aufwärts, auf eine endlos lange Eisenbrücke hoch über den Sumpf, der unter ihm zurückblieb. Sie rasten über kühle grüne Teiche hinweg, die mit Algen und Seerosenblättern bedeckt waren. Weiße Reiher stoben auf, und Fliegen und Moskitos surrten um sie herum. Die gesamte erhöhte Schienenführung war verstärkt, um den Citykillern standzuhalten, die mit erstaunlicher Regelmäßigkeit gegen die Küste anstürmten, aber sonst gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass dieses Sumpfgebiet bewohnt war.
Sie glitten über die moosbedeckten, zerklüfteten Gebäude einer toten Stadt dahin. Eine ganze Welt voller Optimismus, die nun unter Wasser lag, von der sich wandelnden Natur mit geduldiger Hand zerstört. Nailer fragte sich, was für Menschen wohl in den eingestürzten Häusern gewohnt hatten. Wohin sie wohl gegangen waren? Die Gebäude waren riesig, größer als alles, was er vom Strand her kannte. Die besseren waren aus Glas und Beton errichtet, doch es war ihnen nicht anders ergangen als den schlechteren Häusern, die einfach in sich zusammengebrochen waren und von denen nur noch faulende Balken und Bretter zurückblieben.
» Ist es das?«, fragte Nailer. » Ist das New Orleans?«
Nita schüttelte den Kopf. » Das sind die Ortschaften außerhalb. Trabantenstädte. Die findet man überall. Und sie ziehen sich kilometerweit hin. Sie stammen aus einer Zeit, als noch jeder ein Auto hatte.«
» Jeder?« Nailer dachte einen Moment nach. Das war äußerst unwahrscheinlich. Wie konnten so viele Leute so reich sein? Genauso gut konnte jeder einen Klipper besitzen. » Wie denn das? Da sind doch gar keine Straßen.«
» Doch.« Sie deutete mit dem Finger. » Schau, da.«
Und tatsächlich, als Nailer den Dschungel genauer in Augenschein nahm, konnte er die Alleen erkennen, die nach und nach von den Bäumen vereinnahmt worden waren. Jetzt glichen die Straßen eher von Moos und niedrigem Farn überwucherten Pfaden. Man musste sich die Bäume wegdenken, die in ihrer Mitte emporwuchsen, aber sie waren da.
» Woher hatten sie denn das Benzin?«, fragte Nailer.
» Von überallher.« Nita lachte. » Von der anderen Seite der Erde. Vom Grund des Ozeans.« Sie machte eine Handbewegung, die die untergegangenen Ruinen und das blitzende Meer umfasste. » Sie haben dort draußen gebohrt, im Golf. Haben die Inseln abgetragen. Deshalb sind die Stürme auch so heftig. Früher haben die Inseln eine natürliche Barriere gebildet, aber sie haben sie abgetragen, um an das Öl ranzukommen.«
» Yeah?« Nailer war nicht überzeugt. » Woher weißt du das?«
Nita lachte erneut. » Wenn du zur Schule gegangen wärst, wüsstest du das auch. Die Stürme, die über Orleans hinwegfegen, sind berüchtigt. Jedes kleine Kind hat schon mal von ihnen gehört.« Sie hielt plötzlich inne. » Ich meine …«
Nailer hätte ihr am liebsten eine geknallt.
Tool lachte, ein leises, belustigtes Grollen.
Manchmal war Nita ganz in Ordnung. Dann wieder war sie eben doch ein Bonzenmädchen. Ein arrogantes Miststück. In diesen Momenten dachte Nailer, dass sie am Bright Sands Beach das ein oder andere hätte lernen können – dass selbst Sloth, so habgierig und egoistisch sie auch gewesen war, mehr begriffen hatte als dieses Mädchen, die noch immer hübsch aussah, obwohl sie einiges durchgemacht hatte, als könnten ihr der Schmutz und das Leid nichts anhaben.
» Tut mir leid«, sagte Nita, aber Nailer ließ die Entschuldigung an sich abprallen. Es
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