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Schiffsmeldungen

Titel: Schiffsmeldungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Reifenfabriken. Eine lange Rezession entvölkerte die Innenstadt, machte die Einkaufszentren kaputt. Fabriken zum Verkauf. Elendsstraßen, Jugendliche mit Schießeisen in der Tasche, litaneiartiges politisches Wortgeklapper, fransig geredete Münder und zerschlagene Ideen. Wer wußte schon, wo die Leute hin-gingen? Vermutlich nach Kalifornien.
    Quoyle kaufte Lebensmittel im A&B-Lebensmittelladen, tankte an der D&G-Tankstelle, brachte das Auto in die R&R-Werkstatt, wenn es Öl oder einen neuen Keilriemen brauchte. Er schrieb seine Artikel, wohnte in seinem gemieteten Wohnwagen, sah fern. Manchmal träumte er von der Liebe. Warum nicht? Ein freies Land. Wenn Ed Punch ihn feuerte, gönnte er sich Gelage aus Kirscheis, Dosenravioli.
    Er trennte sein Leben von den Zeitläuften. Er hielt sich für einen Zeitungsreporter, las aber keine Zeitung außer dem Mockinburg Record und übersah auf diese Weise erfolgreich Terrorismus, Klimaveränderung, Regierungsumstürze, Chemieunfälle, Seuchen, Rezession und Bankzusammenbrüche, Weltraummüll, das Ozonloch. Vulkane, Erdbeben und Wirbel-stürme, Sektenscharlatane, fehlerhaft produzierte Fahrzeuge und Wissenschaftshochstapler, Massen- und Serienmörder, Flutwellen von Krebserkrankungen, Aids, Zerstörung des Regenwaldes und explodierende Flugzeuge lagen ihm so fern wie Haarspangen, Rüschenhöschen und rosenbestickte Strumpf-halter. Die Wissenschaftsmagazine spuckten Berichte über mutierende Viren aus, über Apparate, die in die Beinahe-Toten Leben pumpten, über die Entdeckung, daß die Galaxien apokalyptisch auf einen unsichtbaren Großen Magneten zu-strömten wie Fliegen in die Düse eines Staubsaugers. Das war Stoff aus dem Leben anderer. Er wartete darauf, daß seines anfing.
    Er gewöhnte sich an, um den Wohnwagen herumzugehen und laut »Wer weiß?« zu fragen. »Wer weiß?« sagte er. Denn keiner wußte es. Alles war möglich, meinte er.
    Eine kreiselnde Münze, die noch auf dem Rand schaukelt, kann in beide Richtungen fallen.

2
    Liebesknoten
    In alten Zeiten sandte ein liebeskranker Seemann seiner Angebeteten bisweilen ein Stück Tau, das locker zu einem Echten Liebhaberknoten gebunden war. Wenn der Knoten zurückkam, wie er geschickt worden war, galt die Beziehung als offen. Kam der Knoten eng zusammengezogen zurück, hieß das, die Leidenschaft beruhte auf Gegenseitigkeit. Ein umgekippter Knoten bedeutete jedoch den stillschweigenden Rat, die Leinen zu lösen und in See zu stechen.

    Dann bei einer Versammlung Petal Bear. Dünn, feucht, heiß. Zwinkerte ihm zu. Quoyle hatte die Sehnsucht des dicken Mannes nach einer zierlichen Frau. Er stellte sich neben sie an den Tisch mit den Erfrischungen. Engstehende graue Augen, lockiges eichenbraunes Haar. Das Neonlicht machte sie blaß wie Kerzenwachs. Ihre Augenlider schillerten von einer pulverigen Creme. Ein metallisch glänzender Faden in ihrem rosa Pullover. Diese schwachen Funken übergossen sie mit einem Schimmer wie ein Lichtschwall. Sie lächelte, die perlenfarbigen Lippen feucht von Cidre. Seine Hand schoß zu seinem Kinn empor. Sie nahm sich ein Plätzchen mit weißen Cremeaugen und einem Mandelmund. Schaute ihn an, als ihre Zähne eine Mondsichel herausbissen. Eine unsichtbare Hand warf in Quoyles Eingeweiden Schlingen und Knoten aus. Knurren aus seinem Hemd.
    »Was denken Sie?« sagte sie. Sie redete schnell. Sie sagte, was sie immer sagte. »Sie wollen mich heiraten, was? Denken Sie nicht, daß Sie mich heiraten wollen?« Wartete auf den Witz. Beim Sprechen veränderte sie sich auf provozierende Weise, wirkte plötzlich wie in Erotik getaucht, wie ein Taucher, der aus einem Becken hochkommt und, den Bruchteil eines Augenblicks von einer heilen Wasserschicht überzogen, wie Chrom glänzt.
    »Ja«, erwiderte er und meinte es. Sie hielt es für Schlagfertigkeit. Sie lachte, grub ihre Finger mit den scharfen Nägeln in seine. Starrte ihm fest in die Augen wie ein Optiker, der nach einem Schwachpunkt sucht. Eine Frau verzog das Gesicht, als sie die beiden sah.
    »Verschwinden wir von hier«, sagte sie. »Gehen wir was trinken. Es ist jetzt sieben Uhr fünfundzwanzig. Bis zehn habe ich Sie gevögelt, was halten Sie davon?«
    Später sagte sie: »Mein Gott, das ist bis jetzt der größte.«
    Wie ein heißer Mund einen kalten Löffel, so wärmte Petal Quoyle. Er stolperte fort von seinem gemieteten Wohnwagen, von seinem Durcheinander aus schmutziger Wäsche und leeren Raviolidosen zu schmerzvoller Liebe; das Herz auf

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