Schiffstagebuch
fünfundzwanzig Jahren die Generäle hier? Unrecht und Ungleichheit zu bekämpfen ist prima, doch wenn das nur durch eine Diktatur à la Fidel Castro zu erreichen ist oder die Manipulationen eines Hugo Chávez, was nützt das dann?
Hoch und niedrig. Gott hoch, die Menschen niedrig. Gott wie die Kirche des Heiligen Franziskus, rosarot und mit vielen weißen Säulen, ein Palast des Reichtums für einen Bettelmönch. Gott auch in der Gestalt dieses Mönchs auf einem hohen Sockel. Und dann wieder ein Generalhoch und die Menschen noch immer niedrig. Er reitet auf dem großen Platz, den Kopf zwischen den Washingtonpalmen und den Araukarien, über die allegorischen Figuren im unteren Teil seines Standbilds, und die Menschen sitzen tief unter ihm auf den Stufen zu seinem Ruhm und füllen mit ihren sanften Gesprächen den Abend. An einer Straßenecke steht verloren ein Ritter mit Mühlkragen und Pluderhose aus der Zeit Cervantes‘. Ritter und General, ich kann ihre Namen nicht lesen, Versatzstücke aus der Geschichte der Menschen, die hier sitzen und in der Dämmerung die Tauben füttern. Das Historische Museum habe ich mir angesehen, die niedrigen Formen des weißen cabildo , harmlos gewordener Kolonialismus, eigentlich nur schön, wie auch die barocken Figuren in der Kirche und das barbarische Gold des Altars von allein schön geworden sind, weil die Zeit hier das Fremde zum Eigenen zurechtgeschliffen hat. Jedes Jahr im September wird die Gekrönte Jungfrau der Tränen gefeiert, und es gibt die Prozession des Primitiven Kreuzes des Herrn des Wunders. Ein Dichter braucht sich hier nichts auszudenken, alles ist schon da, im Spanischen des Frühbarock, geerbt aus dem Andalusien und der Estremadura der Eroberer. In der Nähe des Bahnhofs schlendere ich durch die Calle Balcarce, Bars, Restaurants, Läden mit Gebäck wie die Bildhauerkunst Jeff Koons‘, ich höre Musik, es wird getanzt, dies ist fern von der Welt und zugleich der Mittelpunkt der Welt. Hier startet der Tren a las nubes , der Zug zu den Wolken, die höchste Eisenbahnlinie weltweit, die über die Anden nach Chile führt. Es gibt ein Festival für Reiseschriftsteller in Frankreich, in Saint-Malo, namens Étonnants Voyageurs , zwei Wörter aus einem Gedicht von Baudelaire: »Erstaunliche Reisende, sagt! was habt ihr gesehen?« Die Antwortvon heute: Ich sah eine Kanzel mit den Porträts von Augustinus und Thomas von Aquin, ich sah den Zweispitz der Galauniform von General Martín de Güemes, ich sah einen aus dem Holz des Jakarandas gefertigten Stuhl und einen flehenden Indianer aus Stein aus der vorkolonialen Zeit. Dies alles im Museo Histórico del Norte. Ich habe Zeichnungen gemacht, von einem Mordwerkzeug, einer maza rompecabezas , ein gezackter Stein, mit dem man Köpfe einschlagen kann, und von einem aribalo , in dem die Inka Flüssigkeiten transportierten. »Strick durch zwei asas (Henkel)«, lese ich, »Ausstülpung unten am Hals (des Kruges).« Was war der Sinn all meines Eifers? Werde ich das alles behalten? Vielleicht nicht, doch unsichtbar werde ich das Vergessene dieser merkwürdigen Buchhaltung mit mir tragen, so wie man manchmal Geld in einer Jacke findet, die man nie mehr trägt, oder wie ein Traumbild einen an etwas erinnern will und man weiß nicht mehr, was. Alles verschwindet, nichts geht verloren.
Unterwegs nach Norden. San Salvador de Jujuy. Barockengel am Geländer der hohen Kanzel vor der Wand in der Kathedrale. Sie sind aus Holz und aus Gold, und trotzdem schweben sie. Ich frage mich, ob der Priester die apfelförmigen goldenen Brüste der bildschönen Karyatide noch sieht, die soviel Gewicht tragen muß, wenn er auf dieser ellenlangen Jakobsleiter nach oben steigt. Draußen auf dem großen Platz demonstriert die Gewerkschaft, weiße und blaue Fahnen, aber sie halten sie so, daß die Aufschriften nicht zu lesen sind. Ein kleiner Junge stellt sich vor mich, so daß ich nicht weiterkann. Limpiabotas , der Schuhputzer. Ich sehe ihm an, daß er weiß, er hat einen Fang gemacht, und wir lachen. » Sucio «, ruft er, schmutzig,und deutet auf meine Schuhe. Putzen kann er. Zuerst trägt er etwas Nasses auf, dann verreibt er es, dann wieder etwas Nasses, ziemlich orange, wieder reibt er, dann schlägt er das Tuch fest auf den Schuh. Erst danach kommen die Bürsten zum Einsatz. Zum Schluß wird alles in einer Holzkiste verwahrt, die Pesos kommen in eine Plastikdose. Ich kann weiterreisen, Tilcara, Humahuaca. Unterwegs übernachte ich in einem
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