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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Straße ragen über 5000 Meter hohe Gipfel auf. An der Straße ein Denkmal als Markierung des Wendekreises des Steinbocks, dies ist die Grenze zu den Tropen, der 23. Breitengrad. Kommt man am 21. Dezember hierher, fallen die Sonnenstrahlen senkrecht auf den Boden, eine Welt ohne Schatten, ohne unsere gesichtslosen Doppelgänger.
    Die Grenze. Niedrige Gebäude, der aufgerissene Betonder Straße, Lastwagen, aber auch ein unvorstellbarer Betrieb. Riesenlange
     Menschenschlangen, hauptsächlich Frauen, stehen hinter den Absperrungen Richtung Bolivien. Sie tragen alle riesige Säcke auf dem Rücken, Säcke, so groß,
     daß sie sich tief bücken müssen, um gehen zu können. Doch die gleiche lange Schlange steht auch auf der anderen Seite. Es dauert einen Moment, bis das
     Bild zu mir durchdringt. Hier bewegt sich unentwegt eine Menschenmenge von einem ins andere Land und wieder zurück. Ich bemerke, wie sich die
     argentinischen Zöllner das tatenlos ansehen und die Menge durchlassen, ohne nach Papieren zu fragen. Bevor ich richtig nachgedacht habe, stehe ich schon
     zwischen den Frauen und trotte langsam mit. Falls die Grenzwächter mich gesehen haben, lassen sie es sich nicht anmerken. Ich bin zwar nicht groß, rage
     aber doch aus der Menschenmenge heraus, und außerdem habe ich keinen Sack. Niemand hält mich auf, und plötzlich bin ich in Bolivien. Einbildung natürlich,
     daß es dort anders aussieht, ärmer, karger. La Quiaca heißt dieser Grenzort, als ich mich umdrehe, sehe ich auf einem Schild, daß es 5121 Kilometer nach
     Ushuaia sind. Mir wird bewußt, daß ich kein bolivianisches Geld habe, aber ich besitze noch ein paar Dollarscheine, damit kommt man in diesem Teil der
     Welt weit. Ich gehe ins Hotel Frontera, ein niedriges dunkles Gebäude mit nur einem Stockwerk ( hay habitaciones disponibles con baño compartido ),
     bestelle ein Bier und frage, was die biblischen Szenen da draußen bedeuten. Die Antwort ist simpel, die Dritte Welt kindergerecht erklärt. Infolge der
     Krise des argentinischen Pesos ist der Zement auf der anderen Seite um einen Bruchteil billiger. Und so gehen die Frauen unaufhörlich über die Grenze, um
     in Argentinien einen Sack zu kaufen und sich auf den Rücken zu laden. Damit verdienen sie pro Sack diese minimale Differenz, und am Ende des Tages ist es für hiesige Begriffe plötzlich viel. Ich gehe ein Stück weit die Straße entlang. Lehmhäuser, Verfall, ein Mann auf einem Pferd, Lamas, die mich mit ihren Philosophenköpfen betrachten und dann weiter an den trockenen Sträuchern fressen – später so etwas Ähnliches wie ein Zentrum, auch hier alles flach und unscheinbar.
    Die Straße nach Bolivien, hinter Purmamarca
    An den Rückweg hatte ich nicht gedacht, doch die Menge ist so groß, daß es kein Problem wird. Ich denke, daß ich mich ausreichend tarne, wenn ich wie sie gebeugt gehe und niemanden ansehe, und so ist es. In der Ferne steht in großen Buchstaben über der Straße: WILLKOMMEN IN DER REPUBLIK ARGENTINIEN, und als Menge getarnt, kehre ich entgegen dem Strom in das Land zurück, als einziger ohne Zement. Auf den Säcken steht Muscariello oder Victoria, doch nach einem Sieg sieht es nicht aus.

    Grenze zwischen Argentinien und Bolivien
    Von einem Hügel aus betrachtet, ist es ein atemberaubendes Bild, ein Regisseur aus Hollywood hat die Tausenden bestellt, die dort durch das staubige flache Land unentwegt hin- und herziehen. Es ist hoch hier, wenn man nichtdaran gewöhnt ist, hat man Mühe beim Atmen. Als ich inmitten der Menschen ging, hörte ich, wie still es war, außer dem Schlurfen der vielen Füße war nichts zu vernehmen. Wo mein Auto steht, ist eine Busstation. Ich sehe mehrere Backpackers, die wie ich auf dieses Bild schauen. Sie reisen, wie ich früher, in den fünfziger Jahren, gereist bin, per Anhalter und in überfüllten Bussen, mit wenig Geld, und schlafen, wo es sich gerade ergibt.
    Sie kommen aus Bolivien, hier fahren die Busse ab nach Rosario, Tucumán, Pocitos, Buenos Aires, Tausende von Kilometern. Ihre großen Rucksäcke erinnern mich an die Zementsäcke, die ich gerade gesehen habe. Oft werde ich gefragt, ob die Welt nicht klein geworden ist oder worin der Unterschied zwischen Reisen und Tourismus besteht. Der Unterschied ist der: Für diese Trecker ist die Welt nicht klein, sondern groß, und wenn sie, nachdem sie so gereist sind, nach Amerika oder Europa zurückkehren, haben sie etwas über diese Welt gelernt, das sie nie mehr vergessen

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