Schiffstagebuch
gern mit dem Zug reisen, da das aber nicht
geht, stehe ich auf der hohen Überführung, die all die Linien überspannt, und schaue auf das Leben zwischen den Gleisen, am Boden kauernde, redende,
liegende, essende Menschen. Die Schienen verflechten sich ineinander, lange Züge brechen zu Tage dauernden Reisen in alle Richtungen dieses Kontinents
auf, ich höre in der Ferne die Stimmen von Lautsprechern und würde gern mitfahren, mich wie ein Mensch des neunzehnten Jahrhunderts dem Tempo dieses
Landes anheimgeben, aber das geht nicht, ich will nach Benares, in die Stadt des Ganges und der Toten, und in der mir zugemessenen Zeit ist das nur auf
dem Luftweg möglich. Jemand hat mir den Namen eines kleinen Hotels am Ganges genannt, aber es ist voll. »No place, Sir«, sagt der bordeauxrote Portier
meines Hotels in Delhi. »But if you want, I can find another place for you, on the river.« Er nennt den Preis. Aber das ist ja genauso viel, wie ein Glas
Wein in diesem Hotel kostet, sage ich. »Yes, Sir, but it is o. k. It is a Muslim hotel, vegetarian, and no alcohol.« So ist es. In dem Hotel, das soviel
kostet wie ein Glas Wein, bekommt man keinen Wein. Es ist karg, rudimentär, streng. Der Mann, der mich erwartet, hat sich eine Decke gegen die Kälte
umgeschlagen, er heißt Abdullah und ist nicht gesprächig. Das Zimmer ähnelt einer Klosterzelle. Kein Telefon, kein Fernseher, Steinfußboden, ein hartes
Bett, aber draußen eine Galerie, von der aus man aufden Fluß schauen kann und auf die leere braune, majestätische Landschaft
dahinter. Ich wohne am Assi Ghat, dem meinem Gefühl nach südlichsten der über achtzig Ghats von Benares, weil es auf meiner Karte das unterste ist, auf
der linken Seite des Flusses. Der Pfeil im Fluß zeigt jedoch nach oben, und das kann niemals der Norden sein, denn der Ganges entspringt im
Himalaja. Alles ist also umgekehrt, das Assi Ghat ist das nördlichste und liegt auf der Ostseite des Flusses. Für einen gläubigen Hindu sind diese
Überlegungen wahrscheinlich ohne Bedeutung. Für ihn zählt eine andere Geschichte. Einst, in jenem hinreißenden, unbestimmten Einst, in dem die großen
Geschichten entstehen, lebte ein König namens Bhagirath. Seine Vorfahren hatten die Unvorsichtigkeit begangen, den weltabgewandten, weisen Kapila in
seiner tiefen Meditation zu stören, woraufhin dieser so wütend geworden war, daß er sie durch seinen rasenden Blick zu Asche versengt hatte. Was muß ich
tun, um ihnen zu helfen? fragt der König den Gott Brahma. Das Wasser des Himmelsflusses ist die einzige Lösung. Wenn die in der Unterwelt gefangenen
Seelen seiner Vorfahren darin untergetaucht werden, sind sie gereinigt und gerettet. Doch wenn der Fluß direkt vom Himmel auf die Erde strömt, gehen sie
unter. Hier kann nur die Göttin Ganga helfen, aber wie soll sie das tun, ohne gleich die Erde zu ertränken? Daher ruft Bhagirath Shiva zu Hilfe, den
freundlichen Gott des Himalaja, der das mächtig herabdonnernde Wasser mit seinem Kopf auffangen soll, wonach es langsam durch die dichten Wälder seiner
Locken herabströmen wird. Nun, da ich dies lese, erkenne ich auch meinen Irrtum. Die merkwürdige Biegung, die der Fluß macht, als wolle er nach Norden
fließen, ist Täuschung, es scheint nur so, weil Ganga, als sie die wundersam schöne Stadt Benares sah, ihren Weg nicht fortsetzen wollte
und fast zurückgekehrt wäre. Nur der sanfte Zwang des Königs konnte die Göttin davon abbringen, und so liegt die Stadt nun an ihren Ufern, und seit jener
Zeit kommen die Hindus zu Millionen hierher, um zu beten, um sich zu reinigen, um zu sterben und an den Ufern dieses Flusses verbrannt zu werden. Einen
ersten Eindruck davon habe ich gewonnen, als das Taxi sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen versuchte. Nun, da es ruhiger geworden ist, sitze
ich auf der Dachterrasse meines Hotels. Ghat bedeutet Anlegestelle, bezeichnet aber auch die Treppen, die von den steilen Ufern zum Wasser hinunterführen,
sowie die hohen Gebäude dahinter. Ich habe mit Abdullah vereinbart, daß ein Ruderer mich morgen früh bei Sonnenaufgang an allen Ghats entlangrudern wird;
jetzt bleibe ich hier oben im Halbdunkel, blicke auf die fernen Lichter, die langsamen Boote auf dem Fluß, den Mann, der seine Wasserbüffel
zusammentreibt, und lausche dem unaufhörlichen Gesang,Gebet, der Litanei, die aus einem kleinen Gebäude links neben dem Hotel kommt. Die
Laute kreisen,
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