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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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wie totales Chaos aussieht, und es gibt keine bessere Methode, sich ihm auszuliefern, als zu Fuß zu gehen oder ein Dreiradtaxi zu nehmen und jede Form von Angst von sich zu schieben. Verkehr bedeutet hier seinem Wesen nach: vorzustoßen, und zwar so weit wie möglich. Millimeterkunst, Auspuffgaskunst. Man sitzt auf einer unglaublich schmalen Bank, dem Fahrer direkt im Genick, der nur ein Ziel hat: jede Lücke zu finden, in die das Spermatozoon, das er, ich und sein Tuktuk zusammen bilden, hineinschießen kann. Was rechts und links von uns ist, existiert nicht, in dem Körper vor mir befindet sich ein geheimnisvoller Radar, mit dessen Hilfe wir im letzten Augenblick dem tödlichen Treffer entgehen werden. Durch die Hitze und die qualmenden Gase entsteht bei mir so etwas wie Ekstase. Kommunikation mit dem Fahrer ist unmöglich aufgrund der Sprache und seiner totalen Konzentration. Durch die physische Nähe seines Körpers ist man auch seinem Dasein, der Welt näher, zu der er gehört und man selbst nicht. Delhi ist groß, Stunden habe ich so verbracht, auch nachts gespenstische Fahrten durch dann viel verlassenere Straßen, wenn diese Männer sich ein Tuch oder eine Decke gegen die Kälte umgeschlagen haben. Seinem Dasein näher? Ist das nicht Unsinn? Ja, natürlich ist das Unsinn. Und doch. Nicht abgeschirmt durch Glasscheiben und Abstand, sondern aufgenommen in Gestank und Tumult, mit wechselnden Visionen von Glanz und Elend, werden einem die ersten exemplarischenLektionen erteilt. Mogul-Grabmale und offene Kloaken, Minarette und Hütten, alles ruft und schreit einem etwas zu, Staatsmacht und Verfall, Luxus und Niedergang, während man sich krampfhaft an den dünnen Metallstangen festhält, wird man durch all dies hindurchkatapultiert. Die Elendsviertel und das majestätische, von Lutyens entworfene Ziergitter vor dem Rashtrapati Bhavan, dem Amtssitz des Präsidenten, das wahnsinnige Verkehrschaos und die eisige Ordnung der Nuklearlabore, der Vater mit dem in ein weißes Tuch gewickelten toten Kind, dem ich auf dem schmutzigen Bürgersteig begegne, und die bronzene Devi mit ihrer kodierten Fingerhaltung und den euklidischen Brüsten im Nationalmuseum, das alles ist Teil des Landes, das vor fünfzig Jahren mit einer Rede Nehrus unabhängig wurde: »We made a tryst with destiny (...).« So sieht »destiny« also ein halbes Jahrhundert später aus: nicht ein Land, sondern drei. Demokratie und Nuklearmacht, unterentwickelt und mächtig oder, wie James Cameron vor fünfundzwanzig Jahren in An Indian Summer schrieb: »The government pursued a constitutional policy of equality and social justice, which at the present rate would take about forty million years to achieve. (...) A third nuclear station was going up at Kalapaka in Madras, and the official Planning Commission agreed that nearly 300 million people still lived below the barest subsistence minimum. (...) The Defence budget made enormous claims on revenue, and education was actually moving backwards : 70 % of all Indians were still illiterate. (...) After twenty years of central planning the Health Minister admitted that there was no possible means of fixing a date when 600 000 villages would get fresh drinking-water.«
    Neu Delhi. Moschee
    Das war vor einem Vierteljahrhundert, geschrieben vonjemandem, der das Land kannte und liebte. Und heute? Geplagt von Terrorismus in Kaschmir, ständig am Rande eines Krieges mit Pakistan, erstickt in einer alles überwuchernden Bürokratie, Opfer blutiger, von Fanatikern geschürter Glaubenszwiste, aber nach wie vor funktionierend und all diese vehementen Zentrifugalkräfte in einem unendlich trägen, schweren Körper irgendwie zusammenhaltend, der sich im Tempo eines Landes durch die Geschichte bewegt, das bereits eine vieltausendjährige Geschichte hinter sich hat und unbeeinflußt bleibt vom Kommentar des flüchtigen Außenstehenden.
     
    Was habe ich gemacht? Ich habe jeden Tag die Times of India gelesen und versucht, mich in die byzantinische Komplexität der indischen Politik zu vertiefen, und ansonsten habe ich mich – Fliege in einem Kosmos – wehrlos ergeben, jemand mit zu wenig Augen, um alles aufzunehmen. Die Moguln sind längst aus Indien verschwunden, doch ihre Macht strahlt unvermindert aus ihren Palästen, Forts, Grabmalen. Im Roten Fort habe ich Zeit genug, darüber nachzudenken. Den Verkehr Delhis als Basso continuo im Hintergrund, irgendwo ein Blasorchester, das übt, schrill und schneidend, doch um einen

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