Schiffstagebuch
verkleidet, tut das in der Regel aus Verzweiflung, aus Unzufriedenheit mit den Beschränkungen von Ort und Zeit.
Benares
Einst, vor einer Ewigkeit, fuhr ich von den Niederlanden per Anhalter nach Süden. Ein umwerfender Zweisitzer einer esoterischen englischen Marke hatte ziemlich abrupt angehalten, und ein Mann, der aussah, wie Gustave Doré sich Don Quijote vorgestellt hat, fragte, wohin ich wolle. Ich erinnere mich noch an das Buch, das er hintendrin liegen hatte: Gog von Giovanni Papini, noch besser erinnere ich mich aber an die exemplarische Lektion, die ich während der kurzen Fahrt erhielt: Denk dran, wohin du auch kommst auf deiner Reise, du wirst immer auf dem Stuhl eines anderen sitzen. Ich bin deswegen nicht weniger gereist, aber vergessen habe ich es auch nicht. Die Welt gehört anderen, du darfst sie dir ansehen, um sie besser zu verstehen – oder um dich selbst besser zu verstehen –, aber du kannst diese Welt nicht werden, das konnte Robert Louis Stevenson auf Samoa nicht und Charles de Foucauld nicht in der Sahara, wenngleich einige dem nahekommen mögen.
Ich werde es nicht versuchen. Eine Tika (runder Punkt aus farbigem Pulver) auf meiner Stirn würde mich doppeltsichtbar machen, der Bart eines Sadhu (Weisen) bedeutet an weißen Gesichtern etwas anderes, ich trinke meinen Ingwertee auf der stillen Terrasse und schule mich in der Ikonographie, die ich morgen wieder an den Ghats sehen werde: Die drei waagrechten Streifen auf der Stirn deuten auf einen Anhänger Shivas, sind sie vertikal, ist es ein Anhänger Vishnus. Shiva, der Zerstörer, ohne den Wiedergeburt nicht stattfinden könnte. Ich sehe ihn mit fünf Köpfen, mit einem Dreizack wie ein entfernter Vetter Poseidons. Der andere, Vishnu, ist der Retter der Menschheit, er sitzt auf einer zusammengerollten Schlange und hält ein Muschelhorn und einen Diskus in den Händen, und wenn er ausgeht, reitet er auf Garuda, dem Vogelmann, halb Adler, halb Mensch. Einst war er Rama, Krishna und Gautama Buddha, ich sehe ihn in all diesen Erscheinungsformen, auf Mauern gemalt oder auf billigen Plakaten in kleinen Läden und Kiosken, zusammen mit all den anderen Göttern, deren Namen ich nicht kenne, ein in Grundfarben ausgeführtes Pantheon samt allen dazugehörigen Tieren und Halbtieren. Machtlos bin ich gegenüber diesen Bedeutungen, Darstellungen und Symbolen, die sich mir andienen, und vielleicht bin ich sogar erleichtert, als ich beim großen Tempel in einer der labyrinthischen Gassen freundlich gebeten werde weiterzugehen. Not for European gentlemen , so etwas höre ich und blicke im Halbdunkel in ein verschlossenes Gesicht. Ich rieche Weihrauch, sehe Blumen, doch die Gebärde ist deutlich, ich soll weitergehen, dies ist nicht meine Welt, auch nicht für mich bestimmt, und irgendwie betrifft das alles, was ich um mich herum sehe – einen roten Elefanten, behängt mit bereits verwelkenden Girlanden, eine Göttin mit schwarzer Maske, alles mit seiner eigenen Deutung,die gleichzeitig eine Verweigerung ist: Du darfst es sehen, aber nicht sein. Du kannst atmen, sprechen und denken, dein Körper gleicht all den Körpern ringsum, doch die Distanz ist unüberbrückbar, und wenn ich das als Niederlage empfinde, ist es nicht meine, sondern die meiner Gattung, uns trennt eine unverdauliche Menge Geschichte, Herkunft, Sprache, Ritual. Aber es ist keine Niederlage, sondern der Segen des Unterschieds, weil dadurch die Illusion der eigenen Selbstverständlichkeit zerstört wird. Es wäre lächerlich, es anders zu wollen, Film und Fernsehen haben uns so nahe an andere Welten herangebracht, daß wir glauben, ein Recht darauf zu haben, glauben, wir könnten unsere eigene geographische und zeitliche Zufälligkeit vergessen oder leugnen. Die Welt um mich herum wirkt auf mich so alt wie Babylon auf Christus, läßt man mal den leuchtenden grauen Schimmer von Computerbildschirmen in einigen dieser höhlenartigen kleinen Läden außer Betracht. Doch darin besteht gerade die Täuschung, eine gegenwärtige und nicht gegenwärtige Welt, das Wissen um die großen Geschichten, in denen die anderen lebten oder noch leben, und dazwischen deine eigene geschichtenlose Flüchtigkeit, umringt von Hunderten von Göttern, aber ohne Gott, bedrängt von unzähligen Zeichen, aber ohne Zeichen, ohne Mythos. Die Rolle des Zuschauers hat etwas Demütigendes, weil man, gerade dadurch, daß man etwas sieht, mit solcher Macht davon getrennt wird. Dies ungefähr, glaube ich, waren meine
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