Schilf im Sommerwind
sein, und bereit war, dieses Geheimnis mit jemandem zu teilen. Sein Leben konnte nicht immer einfach gewesen sein, und seit er ihr von seinem Vater erzählt hatte, wusste sie, dass er auch die Schattenseiten des Daseins aus eigenem Erleben kannte. Zum ersten Mal seit Wochen hatte sie wieder Lust zu malen, und sie spürte, dass es mit ihm zusammenhing.
Am Ende stand sie auf. Sie fuhr mit dem Fahrrad zum Postamt und fand einen Brief von Isabel vor:
Wir vermissen dich! Wie ist das Leben mit deinen Nichten, wie war die Rückkehr in dein Elternhaus? Auf dich wartet viel Arbeit, wenn du wiederkommst, und alle hoffen, dass du dir damit nicht zu lange Zeit lässt. Sogar Monsieur Hull. Monique hat sich allem Anschein aus dem Staub gemacht, ist nach Paris oder Vietnam oder dorthin zurück, wo der Pfeffer wächst, und Jonathan schleicht wie ein Nachtwandler durch den Hafen, malt grässliche, unwichtige Bilder für die Touristen und qualmt wie ein Schlot.
Dana wusste es bereits. Jonathan hatte in seinen Briefen entsprechende Andeutungen gemacht. Seinen Namen zu sehen und zu erfahren, was es Neues in Honfleur gab, weckte einen Anflug von Sehnsucht nach dem alten, gewohnten Leben in ihr. Sie hatte damals auf ein gemeinsames Leben mit Jon Hull gehofft, und sie war ein Mensch, der seinen Träumen lange nachhing.
Um sie zu verscheuchen und zu verhindern, dass ihre Gedanken zum Inhalt der Angelkiste zurückkehrten, ging sie mit Allie segeln. Als sie nach einer schönen langen Tour, die am Firefly Beach vorbeiführte, zurückkehrten, fand sie ein Paket neben der Küchentür. Es war in braunes Papier eingewickelt und mit Bindfaden verschnürt, und ein Umschlag war beigefügt. Als Allie ins Haus gegangen war, um etwas zu essen und Limonade zu trinken, öffnete Dana das Paket.
Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie die Farbtuben von Winsor and Newton vor sich sah, Dunkelblau und tiefes Purpurrot, zusammen mit einer vollen Palette weiterer Farben. Es enthielt außerdem ein Etui mit Pinseln und ein kleines Zellophan-Briefchen mit zwanzig Blattgold-Plättchen der Firma James. Im Begleitschreiben hieß es:
Dana, es besteht keine Notwendigkeit, Detektiv zu spielen. Du bist Malerin. Bitte lass mich die Sache in die Hand nehmen, ja? Ich habe da meine Verbindungen. Die restlichen Malutensilien, die du brauchst, findest du im Schuppen. Alles Liebe, Sam.
Dana lächelte, als sie die Anhöhe hinunterging und die schwere Schuppentür öffnete. Sie trat ein und fand, genau gegenüber der Angelkiste, mehrere zugeschnittene Kiefernhölzer, ein Meter fünfzig und ein Meter achtzig lang und fünf Zentimeter breit, eine Rolle mit Leinwand, eine Dose Kreidegrund und einen kleinen Beutel mit Nägeln. Daneben, mit einer großen roten Schleife geschmückt, lag ein brandneuer Hammer. Die unausgesprochene, mit dem Präsent verbundene Botschaft lag auf der Hand: Sam wollte sie zum Malen anspornen.
Die Sache war, dass es keiner großen Überredungskunst bedurfte: Nach der durchwachten Nacht hatte sie selber den Wunsch. Sie legte die Querhölzer zurecht und nagelte sie mit aller Kraft zusammen. Die Angelkiste befand sich noch an derselben Stelle, an der sie beim letzten Mal gestanden hatte – am Rande ihres Blickwinkels. Während sie die Nägel einhämmerte, überlegte sie, was sie malen sollte.
Sie überprüfte nur ein einziges Mal den Inhalt der Kiste: Die fünftausend Dollar waren noch da. Sie arbeitete weiter, zog die Leinwand straff, trug den Kreidegrund auf. Sie versuchte, ihrer widerstreitenden Empfindungen Herr zu werden. Die geballte schöpferische Kraft, die sich im letzten Jahr aufgestaut hatte, drängte darauf, sich Bahn zu brechen. Zweifel und Ängste, Wut und Trauer, ihre Liebe zu Lily, ihr Kummer um Jonathan wüteten in ihrem Innern wie ein Tornado, der in einer Schuhschachtel gefangen ist.
Während die Grundierung trocknete, sah sie nach den Mädchen. Allie las, aber Quinn war verschwunden, hatte sich auf eine ihrer üblichen Spritztouren begeben. Dana nahm den Feldstecher und entdeckte sie auf dem großen Felsen: Sie saß reglos da und blickte auf das Meer hinaus. Da Dana ihren Beitrag leisten und Sam helfen wollte, rief sie Marnie an, um mehr über das Sun Center in Erfahrung zu bringen.
»Emerald City, die ›Smaragdstadt‹ aus dem
Zauberer von Oz,
nannten Lily und ich sie – ein wahres Paradies für Senioren; für die Töchter ist es ebenfalls eine Entlastung, zu wissen, dass sich die alten Herrschaften in dieser Wohnanlage wohl
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