Schilf im Sommerwind
zu schützen und mich zu ihrem Fürsprecher zu machen – vor allem die noch unberührte Landschaft auf Martha’s Vineyard.«
Als ihre Tante tief Luft holte und ihren Pinsel auf den alten Tisch neben ihr legte, wusste Quinn, dass ein ernstes Gespräch fällig war.
»Aha!«, sagte sie.
»Komm mit nach draußen. Ans Tageslicht.«
Als sie aus dem Schuppen traten, blinzelten beide in der plötzlichen Helligkeit. Es war ein heißer Sommertag, und das Sonnenlicht wurde vom Sund zu beiden Seiten von Hubbard’s Point reflektiert. Sie lehnten sich an die Steinmauer, das Gesicht dem Haus der McCrays zugewandt. Tante Danas Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug, und Quinn spürte, wie erregt ihre Tante war und wie groß ihr Bedürfnis, gut für ihre Nichten zu sorgen. Sie schloss die Augen und wünschte sich, sie wäre wieder ein kleines Mädchen.
»Worum geht es?«, fragte sie.
»Um übermorgen.«
Quinn hielt sich die Ohren zu. »Sag es nicht! Ich weiß es auch so.«
»Quinn …«
»Das ist der erste Jahrestag. Der dreißigste Juli!«
»Ich finde, dass wir uns etwas überlegen sollten, Liebes. Um deiner Eltern zu gedenken.«
»Ich denke jeden Tag an sie«, murmelte Quinn mit zusammengebissenen Zähnen. Sie spürte, wie sich der Druck in ihrem Innern aufbaute. Tante Dana meinte es zweifellos gut, aber wenn sie weiterredete, würde sie explodieren. Sie gingen inzwischen oft segeln – beinahe jeden Tag. Tante Dana würde garantiert vorschlagen, die Asche im Sund zu verstreuen …
»Ich meine, eine besondere Gedenkfeier. Nachdem mein Vater gestorben war, besuchten wir jedes Jahr am Todestag sein Grab. Grandma pflückte Blumen im Garten. Lily wählte ein Gedicht aus, und ich malte ein Bild. Wir gingen auf den Friedhof und lasen ihm das Gedicht vor, stellten die Blumen und das Bild vor den Grabstein …«
»Meine Eltern haben keinen Grabstein.«
»Ich weiß«, erwiderte ihre Tante ruhig. »Das ist ja das Problem. Ich dachte …«
Quinn schüttelte so heftig den Kopf, dass ein Gummiband in hohem Bogen von einem ihrer Zöpfe flog. »Nein! Ich will nicht, dass sie einen Grabstein bekommen!«
»Quinn, die Asche kann nicht für immer in der Urne auf dem Kaminsims bleiben!«
»Kann sie wohl!«
»Ich möchte die Sache mit dir klären, weil du die Älteste bist. Es ist Allie gegenüber nicht fair. Sie möchte ein Grab für ihre Mutter haben und ihr weiße Blumen bringen. Ich finde, es ist an der Zeit, ihr die Möglichkeit zu geben.«
»Nein!« Quinn weigerte sich, noch länger zuzuhören. Sie funkelte ihre Tante zornig an, hasste plötzlich wieder Gott und die Welt. Wieso versuchte ihre Tante zu malen, wo es so viele wichtigere Fragen gab, die einer Antwort bedurften?
»Deine Eltern haben das Meer geliebt«, sagte Tante Dana. »Wir könnten die Asche in alle Himmelsrichtungen verstreuen, Quinn, das würde ihnen gefallen. Draußen im Sund, oder wo immer du möchtest. Und danach besorgen wir einen Grabstein und stellen ihn im Kräutergarten auf … Du könntest dort Zwiesprache mit ihnen halten und dir den Weg zum Little Beach sparen.«
»Du hast angeboten, mir zu helfen.« Die Worte kamen wie von selbst über Quinns Lippen. »An dem Abend, als ich dir gesagt habe, was ich vermute. Aber du hilfst mir nicht, nicht die Bohne. Du willst doch nur, dass ich sie vergesse!«
Sie machte auf dem Absatz kehrt, Tante Dana mit ihren zehn verschiedenen Blauschattierungen auf Kleidern und Händen zurücklassend, und lief den Weg hinunter zum Strand, zu dem einzigen Stein und dem einzigen Ort, wo sie sich noch sicher und geborgen fühlte. Die Geschenke, die sie zurückließ, waren immer weg, als hätte sie jemand mitgenommen, und das war ein Zeichen.
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16
A m Jahrestag gingen sie segeln. Zu dritt zogen sie die
Mermaid
vom Ufer ins Wasser. Dana sah zu, wie Quinn das Boot auftakelte. Sie ging geschickt und präzise zu Werk wie ihre Mutter. Allie war für das Vorsegel verantwortlich, wie gehabt. Dana, die normalerweise die Rolle des Skippers übernahm, überließ Quinn heute das Ruder, und sie segelten nach Osten, in Richtung Martha’s Vineyard – in aller Stille, bis auf das leise Plätschern des Wassers gegen den Rumpf.
Später pflückten Dana und Allie einen Strauß weißer Gänseblümchen und stellten sie in eine Vase auf den alten Eichentisch. Sie zündeten eine Kerze an und erzählten sich gegenseitig Geschichten über Lily und Mark. Am anderen Ende der Bucht saß Quinn neben ihrem Felsen. Sie harrte dort
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