Schilf im Sommerwind
den Cartoons. Sie hielt das Tagebuch in der Hand, fuchtelte mir damit vor dem Gesicht herum.
»Du spionierst deinem Vater nach, belauscht seine Telefongespräche«, sagte sie. »Das gehört sich nicht für ein anständiges Mädchen. Es zeigt, dass es dir an Vertrauen und Unrechtsbewusstsein mangelt. Wie kannst du nur! Sorgt er nicht dafür, dass wir genug zu essen haben? Reist er nicht kreuz und quer durch das Land, um die richtigen Projekte zu finden? Es gibt gewisse Dinge bei Erwachsenen, die du nicht verstehst.«
Dann erklär sie mir doch, Mommy. Erklär mir die Dinge bei Erwachsenen, die ich nicht verstehe. Ich warte bis heute darauf. Alles, was ich hatte, waren die Telefongespräche und die Streitereien. Warum brüllte sie so laut, wenn sie nicht wollte, dass ich lausche? Sie war ja gar nicht zu überhören. Wie Allie bei dem Lärm schlafen konnte, ist mir schleierhaft.
»Eltern streiten sich eben manchmal«, sagte sie, um mich zu trösten, wenn ich weinte. »Ich liebe deinen Vater über alles. Manchmal neige ich zu Überreaktionen – wenn er beispielsweise eine idyllische Landschaft bebaut. Ich weiß, dass Menschen eine Unterkunft brauchen – und nicht nur Naturschutzgebiete für Vögel und andere Tiere!« Sie drückte mich an sich, gelobte hoch und heilig, dass sie sich trotzdem liebten, und sagte, dass Väter ihrer Arbeit nachgehen mussten, um ihre Familie zu versorgen. Dass sie ein Heim für Familien und einen Platz für alte Menschen schufen, in dem sie es gut hatten. Trotzdem gehen mir ihre Streitereien bis heute nicht aus dem Kopf, verfolgen mich wie ein böser Spuk.
Sam ist gleich fertig. Was wird er bei seinem Tauchgang finden? Das Boot da unten auf dem Meeresgrund spricht Bände, wenn der Richtige kommt, der es zu lesen versteht. Genau wie unser Haus, der Garten, der Schuppen und das andere Tagebuch. Tante Dana ist die Einzige, der ich zutraue, es zu finden – ich wünschte, es würde ihr gelingen.
Sie ist eine tolle Tante. Ich liebe sie – beinahe so sehr wie meine Eltern. Sie bemüht sich um Allie und mich, hilft uns, einen Weg zu finden, ohne Mom und Dad zu leben. Das ist nicht leicht. Die meisten Jugendlichen in meinem Alter glauben noch immer, ihre Eltern wären perfekt. Ich weiß, dass meine es nicht waren, aber ich wünsche mir trotzdem, sie hätten nicht beschlossen, in den Tod zu gehen.
Während Sam den Taucheranzug anzog, gingen ihm zahlreiche Erinnerungen durch den Kopf. Er dachte an einen Sommertag vor zwei Jahren, als er mit seinem Bruder Joe zur
Cambria
hinabgetaucht war. Joe und seine Crew hatten das Wrack und den Schatz der alten Barke geborgen, die vor mehr als hundert Jahren an den Klippen der Wickland Shoals zerschellt war. Sams Blick schweifte über den Sund zu der Fundstelle. Er hatte noch heute die Narbe von dem gerissenen Stahlseil, das ihn am Kopf getroffen hatte, und erinnerte sich an den Hai, der, von seinem Blut angelockt, sich ihnen näherte.
Es war ein Mako gewesen. Ein Menschenfresser – der gefährlichste Hai in diesen Gewässern. Joe hatte behauptet, es sei ein harmloser Schwarzspitzenhai gewesen, aber was wusste er schon? Sein Spezialgebiet war die Geologie. Sam hielt nun vorsichtshalber nach Flossen Ausschau.
Eine andere Erinnerung tauchte auf. Ein kleiner Junge, der am Fuß der Jamestown Bridge wartete, am Weihnachtsmorgen, und sein Vater war tot. Er sah das Eis und den Schnee vor sich, als sei es gestern gewesen, spürte die Kälte bis ins Mark. Er dachte an Quinn, die unten in der Kabine saß: Heute war ihr Weihnachtsmorgen, freudlos und kalt. Es spielte keine Rolle, dass die Augustsonne vom Himmel brannte und das Thermometer fast dreißig Grad anzeigte. Sie würde die Eiseskälte in ihrem Innern spüren, bis Sam der Wahrheit auf die Spur gekommen war.
Dana beobachtete ihn. Er spürte ihren Blick auf seiner nackten Brust, spürte, dass sie näher kam, als er in die schwarze Neoprenjacke schlüpfte. Sie legte ihm die Hand auf den Rücken.
»Danke«, sagte sie.
»Noch habe ich nichts getan.«
»Du hast sehr viel getan. Das Schiff besorgt, Quinn das Gefühl gegeben, es sei ihretwegen. Sie ist unten in der Kabine und schreibt in ihr Tagebuch.«
»Sie führt Tagebuch?« Sam sah hoch. »Hast du probiert, ob der Schlüssel, den wir gefunden haben, dazu gehört?«
Dana schüttelte den Kopf. »Ich würde nie im Leben ihr Tagebuch anrühren, aus welchen Gründen auch immer. Das ist absolut tabu.«
Sam umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen. Er
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