Schilf im Sommerwind
erinnerte sich, wie er sie in ihrem Haus geküsst, in den Armen gehalten, die Wärme ihres Körpers gespürt hatte. Jetzt waren ihre Nichten und seine Crew dabei, aber das war ihm egal. Er küsste sie auf die Stirn, auf die Nasenspitze. Er dachte daran, wie sie Segelunterricht erteilt hatte – nicht ihm, sondern ihren verängstigten Nichten, denen sie geholfen hatte, ihre Angst vor dem Wasser zu überwinden. »Du bist die beste Tante, die man sich nur wünschen kann, Dana.«
»Das hast du schon einmal behauptet«, erwiderte sie lächelnd.
»Es ist wahr, und ich kann es nicht oft genug betonen.«
Dana schien etwas sagen zu wollen, aber Quinn kam die Treppe von der Kabine heraufgestürmt, um sich zu erkundigen, wann der Tauchgang endlich beginne. Schließlich zahle sie ja die Chartergebühren für das Schiff und erwarte entsprechende Leistungen für das investierte Kapital. Sam nickte, bevor Dana Luft holen und den Mund aufmachen konnte, um sie zurechtzuweisen. Er dachte an den Weihnachtsmorgen auf der Brücke und wie schwer es ihm gefallen war, zu warten.
»Auf geht’s«, sagte er, an seine Crew gewandt; dann ließen sich Terry und er mit einer Rolle rückwärts über die Reling ins Meer fallen.
Der Sund war ruhig, aber der Schiffsverkehr erzeugte hohe Wellen in seinem Kielwasser. Haushohe Wellen mit weißen Schaumkronen, auf denen die
Westerley
schlingerte wie eine Gummiente in der Badewanne. Matt und Terry hatten Schwimmer mit Markierungsfähnchen ausgebracht, die darauf aufmerksam machten, dass sich Taucher unter Wasser befanden.
Gut, dachte Quinn. Sie wollte nicht, dass ihretwegen jemand zu Schaden kam. Tante Dana beobachtete sie, als befürchte sie, Quinn könnte den Verstand verlieren und hier auf Deck ausrasten. Um sie zu beruhigen, rang sie sich ein Lächeln ab.
»Das Warten ist schwierig«, sagte Tante Dana.
»Nicht wirklich«, meinte Quinn großspurig.
»Sie schwindelt«, warf Allie ein und befingerte Kimbas Ohr. »In Wahrheit schwitzt sie Blut und Wasser.«
»Woher willst du denn das wissen? Du weißt ja nicht mal, was er da unten macht«, konterte Quinn.
»Und ob ich das weiß. Er sucht Daddys Boot.«
»Tatsächlich? Und warum?«
»Weil es nicht da unten
ins
Meer gehört«, sagte Allie, als sei Quinn geistig zurückgeblieben. »Boote fahren normalerweise
auf
dem Meer.«
Quinn schlug sich an die Stirn. »Gut, dass wir wenigstens ein Genie in der Familie haben.«
»Danke für das Kompliment.« Allie umklammerte Kimba.
»Wie könnte mir das wohl entgehen?« Im Heck des Schiffes zündete sich Matt eine Zigarette an. Quinn würde ihn im Auge behalten und sich die Kippe aneignen, wenn er sie nicht über Bord warf.
»Das reicht, Aquinnah«, sagte Tante Dana warnend.
Beim Klang ihrer Stimme verging Quinn die Lust zu rauchen. Trotz ihrer zwölf Jahre fühlte sie sich wieder wie eine Dreijährige, die sich Schutz suchend an ihre Tante schmiegte. Die Arme ihrer Tante umfingen sie. Quinn schloss ganz fest die Augen. Sie wollte nichts mehr sehen, sondern nur noch fühlen: das Meer, das sie wiegte, ihre Tante, die sie im Arm hielt, die Sonne auf ihrem Gesicht.
Aber selbst mit geschlossenen Augen sah sie es vor sich, das Boot: es würde unangetastet, unbeschädigt sein. Sam würde auftauchen und ihr mitteilen, dass ihr Vater die Seeventile geöffnet hatte. Sie schmiegte sich an Tante Dana und fasste sich in Geduld.
Sam hatte genug Atemluft für eine Stunde, und das war gut so, denn was er für die
Sundance
gehalten hatte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als alter Container. Vierzig Fuß lang und zwölf Fuß breit, besaß er in etwa die gleichen Ausmaße wie das Segelboot. Das Echolot hatte ihn geortet, und Sam hatte sich den Rest zusammengereimt. In deutscher Sprache beschriftet, war er vermutlich von einem Frachter gefallen, der aus Hamburg oder Bremen kam.
Terry und er schwammen langsam gen Süden in die Schifffahrtsstraße hinein. Terry kam aus San Diego und war eine gute Taucherin. Nach Auskunft der Versicherungsgesellschaft war die
Sundance
das letzte Mal im Norden dieser verkehrsreichen Wasserstraße gesichtet worden, aber Desdemona, ein verheerender Wirbelsturm im letzten Sommer, hatte tektonische Verschiebungen in der Struktur des Meeresbodens ausgelöst. Sam war in der glücklichen Lage, sein Wissen über Gezeiten und Strömungen zu nutzen – und die Simulationsmodelle, die er auf einem Computer in Yale erstellt hatte –, um sich ein Bild von der Drift zu machen.
»Es
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